Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
vor dieAugen treten, ohne ihm eine Probe seiner Fähigkeiten zu geben. Von Roberto findet er keine Spur mehr. Ist er krank geworden oder auf eine Reise gegangen? An alles denkt Ferrante, nur nicht daran, dass seine Verleumdungen etwas bewirkt haben könnten und Roberto verhaftet worden ist.
Ferrante wagt nicht, sich in Robertos Gestalt zu zeigen, um nicht den Verdacht derer zu wecken, die Bescheid wissen. Was immer zwischen ihm und Lilia geschehen sein mag, auch zu ihr bricht er alle Kontakte ab mit dem Gleichmut dessen, der weiß, dass jeder Sieg viel Zeit kostet. Er weiß, dass er sein Fernsein ausnutzen muss; auch die besten Eigenschaften verlieren ihren Schmelz, wenn sie sich zu oft zeigen, und die Phantasie reicht weiter als der Blick; auch der Phönix nutzt die fernen Orte, um seine Legende am Leben zu halten.
Aber die Zeit drängt. Wenn Roberto zurückkommt, muss Mazarin ihn schon in Verdacht haben und seinen Tod wollen. Ferrante redet mit seinen Informanten bei Hofe und erfährt, dass man an Mazarin über den jungen Colbert herankommt, dem er daraufhin einen Brief schreibt, in welchem er von einer Gefahr aus England spricht und auf das Problem der Längengrade anspielt (über das er nichts weiß, er hat bloß einmal Richelieu davon reden hören). Als Lohn für seine Enthüllungen verlangt er eine beachtliche Summe und bekommt stattdessen einen Gesprächstermin, zu dem er in seiner Gestalt als Abbé de Morfi mit schwarzer Augenklappe erscheint.
Colbert ist kein Einfaltspinsel. Dieser Abbé hat eine Stimme, die ihm bekannt vorkommt, das wenige, was er ihm zu sagen hat, klingt ihm verdächtig, er ruft die Wache, tritt vor den Besucher, reißt ihm die Augenklappe und den Bart ab, und wen hat er vor sich? Ebenjenen Roberto de La Grive, den er selbst seinen Leuten übergeben hatte, auf dass sie ihn an Bord des Schiffes von Doktor Byrd expedierten.
Roberto frohlockte, als er sich diese Geschichte ausdachte. Ferrante hatte sich in der eigenen Falle gefangen! »Was, Ihr, San Patrizio!?«, rief Colbert völlig überrascht. Und da Ferrante nur verdutzt schaute und schwieg, ließ er ihn in ein Verlies werfen.
Es war für Roberto ein reines Vergnügen, sich das anschließende Gespräch zwischen Mazarin und Colbert auszudenken.
»Der Mann muss verrückt sein, Eminenz. Dass er das Wagnis versucht hat, sich seiner Pflicht zu entziehen, kann ich ja noch verstehen, aber dass er die Stirn gehabt hat herzukommen, um uns verkaufen zu wollen, was wir ihm gegeben haben, ist ein Zeichen von Verrücktheit.«
»Colbert, es ist unmöglich, dass jemand so verrückt ist, mich für einen Dummkopf zu halten. Also spielt unser Mann ein Spiel in der Annahme, dass er unschlagbare Karten hat.«
»In welchem Sinne?«
»Nun, zum Beispiel: Er ist an Bord jenes Schiffes gegangen und hat sofort herausgefunden, was er herausfinden sollte, so dass er nicht länger dort bleiben musste.«
»Aber wenn er uns hätte verraten wollen, wäre er doch zu den Spaniern oder den Holländern übergelaufen. Er wäre doch nicht zurückgekommen, um uns herauszufordern. Was hätte er denn auch von uns verlangen sollen? Geld? Er wusste doch ganz genau, dass er bei loyalem Verhalten sogar eine Stellung bei Hofe erhalten konnte.«
»Offensichtlich hat er ein Geheimnis entdeckt, das mehr wert ist als eine Stellung bei Hofe. Glaubt mir, ich kenne die Menschen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihr Spiel mitzuspielen. Ich will ihn heute Abend sehen.«
Mazarin empfing Ferrante, während er eigenhändig letzte Hand an eine Tafel anlegte, die er für seine Gäste hatte festlich herrichtenlassen als einen Triumph von Dingen, die alle aussahen, als ob sie etwas anderes wären. Dochte glänzten, die aus Gletschereisschalen kamen, und Flaschen schimmerten, in denen die Weine unerwartete Farben hatten, zwischen Körben mit grünem Salat, garniert mit künstlichen Blumen und Früchten, die künstliche Aromen verströmten.
Mazarin, der Roberto – also Ferrante – im Besitz eines Geheimnisses wähnte, aus dem er größtmöglichen Nutzen ziehen wollte, hatte beschlossen, so zu tun, als ob er schon Bescheid wüsste (über das, was er nicht wusste), in der Hoffnung, dass der andere sich etwas entschlüpfen ließ.
Auf der anderen Seite hatte Ferrante, als er sich dem Kardinal gegenübersah, schon geahnt, dass Roberto im Besitz eines Geheimnisses war, aus dem es größtmöglichen Nutzen zu ziehen galt, und hatte beschlossen, so zu tun, als ob erBescheid
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