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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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geschehen? Was für eine Ungerechtigkeit! Entweder für die anderen, die dann der Erlösung beraubt wären, oder für uns, denn in diesem Fall wären die Menschen in allen anderen Welten so vollkommen wie unsere Urahnen vor der Erbsünde und genössen eine natürliche Glückseligkeit ohne das Gewicht des Kreuzes. Oder aber unzählige Adams haben unzählige Male die Erbsünde begangen, in Versuchung geführt von unzähligen Evas mit unzähligen Äpfeln, und Christus war unzählige Male gezwungen, Mensch zu werden und zu predigen und am Kreuz zu leiden, und vielleicht tut er's immer noch, und wenn die Welten unendlich sind, ist auch seine Aufgabe nie zu Ende. Unendlich seine Aufgabe, unendlich die Formen seiner Qual: Wenn es jenseits der Milchstraße ein Land gäbe, in dem die Menschen sechs Arme hätten, wie bei uns in der Terra incognita, dann wäre Gottes Sohn nicht an ein Kreuz genagelt worden, sondern an ein sternförmiges Holz – was mir eines Komödienautors würdig erschiene.«
    »Genug, jetzt mache ich Eurer Komödie ein Ende!«, brüllte der Abbé außer sich vor Wut und stürzte sich mit rasenden Hieben auf Saint-Savin.
    Der hielt ihm mit ein paar guten Paraden stand, dann kam ein Moment. Während der Abbé noch den Degen nach einer Parade erhoben hielt, machte Saint-Savin eine Bewegung, als wollte er einen runden Riverso versuchen, und ließ sich nach vorne fallen. Der Abbé sprang zur Seite in der Hoffnung, ihn im Fallen zu treffen. Aber Saint-Savin, der keineswegs die Kontrolle über seine Beine verloren hatte, war blitzschnell wieder aufgesprungen, wozu er sich mit dem linken Ellbogen vom Boden abgestoßen hatte, und streckte die Rechte vor: Es war der Möwenstoß. Die Degenspitze zeichnete das Gesicht des Abbé von der Nasenwurzel bis zur Lippe und trennte ihm die linke Hälfte des Schnurrbarts ab.
    Der Abbé fluchte, wie kein Epikureer es je gewagt hätte, während Saint-Savin abschließend grüßte und die Umstehenden dem meisterhaften Stoß applaudierten.
    Doch genau in jenem Moment erschien am Ende des Platzes eine spanische Patrouille, vielleicht angelockt von dem Lärm. Die Franzosen legten instinktiv die Hand an den Degenknauf, die Spanier sahen sechs Feinde in Waffen und schrien Verrat. Ein Soldat legte seine Muskete an und schoss. Saint-Savin fiel, in die Brust getroffen. Der Offizier kam gelaufen und sah, dass vier Personen, anstatt ihn anzugreifen, zu dem Gefallenen eilten, er sah den Abbé mit blutüberströmtem Gesicht und begriff, dass er ein Duell gestört hatte, gab seinen Leuten einen Befehl, und die Patrouille verschwand.
    Roberto beugte sich über seinen armen Freund. »Habt Ihr gesehen«, brachte Saint-Savin mühsam vor, »habt Ihr ihn gesehen, meinen Stoß? Denkt darüber nach und übt Euch darin. Ich will nicht, dass mein Geheimnis mit mir stirbt ...«
    »Saint-Savin, mein Freund«, schluchzte Roberto, »Ihr dürft nicht auf so dumme Art sterben!«
    »Dumm? Ich habe einen Dummen besiegt und sterbe auf dem Kampffeld, und zwar an einer Kugel des Feindes. Ich habe in meinem Leben ein kluges Maß gehalten ... Immer ernsthaft zu sprechen verursacht Überdruss. Immer zu spotten Verachtung. Immer zu philosophieren Trübsinn. Immer zu scherzen Unbehagen. Ich habe alle Rollen gespielt, je nach Zeit und Gelegenheit, und manchmal bin ich auch der Hofnarr gewesen. Aber heute Abend, wenn Ihr die Geschichte gut erzählt, wird es keine Komödie gewesen sein, sondern eine schöne Tragödie. Und seid nicht traurig, dass ich sterbe, Roberto«, und zum ersten Mal nannte er ihn beim Vornamen, » une heure après la mort, notre âme évanoüie / sera ce qu'elle estoit une heure avant la vie ... Sind das nicht schöne Verse? Eine Stunde nach dem Tod ist unsere dahingegangene Seele das, was sie eine Stunde vor dem Leben war.«
     
    Er verschied. Entschlossen zu einer noblen Lüge, die auch der Abbé mitmachte, wurde verbreitet, Saint-Savin sei bei einem Zusammenstoß mit Landsknechten gestorben, die sich dem Kastell genähert hätten. Toiras und alle Offiziere betrauerten ihn als einen Helden. Der Abbé erzählte, er sei bei dem Zusammenstoß verletzt worden, und stellte sich darauf ein, bei der Rückkehr nach Paris eine kirchliche Pfründe zu erhalten.
    In kurzer Zeit hatte Roberto den Vater, die Geliebte, die Gesundheit, den Freund und vielleicht den Krieg verloren.
    Es gelang ihm nicht, bei Pater Emanuele Trost zu finden, der zu sehr von seinen Zusammenkünften beansprucht war. So stellte er sich

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