Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
erwiesen. Doch an jenem Abend waren alle überzeugt von der Verwandtschaft zwischen dem Pulver, das Leiden heilt, und der Liebe, die außer Heilung viel öfter auch Leiden bringt.
Deshalb machte die Geschichte von Robertos Rede über das sympathetische Pulver und über die Sympathie der Liebe noch monatelang in Paris die Runde – mit den Folgen, die wir bald sehen werden.
Und deshalb warf Lilia dem Redner am Ende der Rede erneut ein Lächeln zu. Es war ein Lächeln der Anerkennung, jabeinahe der Bewunderung, aber nichts ist natürlicher, als zu glauben, man werde geliebt. Roberto verstand das Lächeln als eine Annahme sämtlicher Briefe, die er ihr geschrieben hatte. Jedoch zu sehr an die Qualen der Abwesenheit gewöhnt, verließ er die Runde, befriedigt von seinem Sieg. Was ein Fehler war, und wir werden bald sehen, warum. Seit jenem Abend wagte er zwar hin und wieder, Lilia anzusprechen, aber jedes Mal bekam er entgegengesetzte Antworten. Einmal raunte sie: »Genau wie neulich gesagt wurde«, einmal erwiderte sie: »Aber neulich habt Ihr etwas ganz anderes gesagt«, und einmal versprach sie auch, während sie verschwand: »Aber wir reden darüber noch einmal, habt Geduld.«
Roberto verstand nicht, ob sie ihm aus Zerstreutheit von Mal zu Mal die Worte und Taten eines anderen zuschrieb oder ob sie ihn aus Koketterie provozieren wollte.
Doch was ihm dann widerfahren sollte, muss ihn dazu getrieben haben, sich jene seltenen Episoden zu einer noch viel beunruhigenderen Geschichte zusammenzureimen.
17
DIE BEGEHRTE WISSENSCHAFT
VON DEN LÄNGENGRADEN
E s war – endlich ein Datum, an das wir uns halten können – der Abend des 2. Dezember 1642. Sie kamen aus einem Theater, wo Roberto schweigend im Publikum seinen Part als Liebender gespielt hatte. Am Ausgang reichte ihm Lilia flüchtig die Hand und raunte ihm zu: »Monsieur de La Grive, Ihr seid so schüchtern geworden. An jenem Abend wart Ihr das nicht. Also morgen erneut, auf derselben Bühne.«
Er war zutiefst verwirrt hinausgegangen: eingeladen zu einem Treffen an einem Ort, den er nicht kennen konnte, und aufgefordert zu wiederholen, was er nie gewagt hatte. Dennoch konnte sie ihn nicht mit einem anderen verwechselt haben, denn sie hatte ihn ja mit seinem Namen angesprochen.
Oh – schreibt er, sich gesagt zu haben –, heute fließen die Bäche rückwärts zur Quelle, weiße Rösser erklimmen die Türme von Notre-Dame de Paris, ein Feuer lächelt glühend im Eis, denn nun ist es doch geschehen, dass sie mich eingeladen hat! Oder nein, heute fließt das Blut aus dem Stein, eine Natter paart sich mit einem Bären, die Sonne ist schwarz geworden, denn meine Geliebte hat mir einen Kelch dargeboten, aus dem ich niemals werde trinken können, da ich nicht weiß, wo das Gastmahl ist ...
Nur einen Schritt vom Glück entfernt, lief er verzweifelt nach Hause, dem einzigen Ort, an dem er sicher war, sie nicht anzutreffen.
Lilias Worte lassen sich in einem sehr viel weniger geheimnisvollen Sinn interpretieren: Sie wollte ihn einfach an seine Rede über das sympathetische Pulver erinnern und ihn auffordern, erneut eine zu halten, und zwar in demselben Salon, in dem er damals gesprochen hatte. Seit damals hatte sie ihn nur still und anbetend gesehen, und das entsprach nicht denRegeln des (sehr streng geregelten) Spiels der Verführung. Heute würden wir sagen, sie wollte ihn an seine gesellschaftlichen Verpflichtungen erinnern. »Nur Mut«, wollte sie sagen, »damals seid Ihr nicht so schüchtern gewesen, begebt Euch erneut auf jene Bühne, ich erwarte Euch an jenem Ort ...« Und eine andere Herausforderung wäre von einer Précieuse auch nicht zu erwarten gewesen.
Er aber hatte verstanden: »Was seid Ihr so schüchtern, Ihr seid es doch neulich Abend gar nicht gewesen und habt mich ...« (ich stelle mir vor, dass ihn die Eifersucht hinderte und gleichzeitig ermunterte, sich die Fortsetzung des Satzes vorzustellen). »Also morgen erneut, auf derselben Bühne, am selben geheimen Ort.«
Es ist nur natürlich, dass er – nachdem seine Phantasie den dornigsten Weg genommen hatte – sofort an eine Personenverwechslung dachte, an jemanden, der sich für ihn ausgegeben und in seiner Gestalt von ihr das bekommen hatte, wofür er sein Leben gegeben hätte. So tauchte Ferrante wieder auf, und alle Fäden seiner Vergangenheit knüpften sich wieder zusammen. Ferrante, sein böses Alter Ego, hatte sich auch in diese Geschichte eingemischt, hatte sich seine
Weitere Kostenlose Bücher