Die Insel Des Vorigen Tages
heroischer Dickköpfigkeit, es sei noch nicht alles verloren. Ein ebenso starkes Teleskop befinde sich auf der Specula Melltensis. Man brauche nur auf die Insel hinüberzugehen und es zu holen.
»Aber wie?« fragte Roberto. »Durch Schwimmen.«
»Aber Ihr sagtet doch, Ihr könntet nicht schwimmen, und in Eurem Alter könntet Ihr’s auch nicht mehr lernen...«
»Ich nicht. Du schon.«
»Aber ich kann’s auch nicht, dieses verflixte Schwimmen.«
»Lern es!«
Dialog über die hauptsächlichsten Weltsysteme
Was folgt, ist von ungewisser Natur: Ich begreife nicht recht, ob es sich um Wiedergaben der Dialoge handelt, die zwischen den beiden geführt worden waren, oder um Aufzeichnungen, die sich Roberto bei Nacht gemacht hatte, um dann bei Tage dem Pater widersprechen zu können. Wie dem auch sei, klar ist jedenfalls, daß Roberto während der ganzen Zeit, die er mit Pater Caspar an Bord verbrachte, keine Briefe mehr an die Signora schrieb. Und daß er allmählich ‘vom Nacht- zum Tagleben überging.
So hatte er zum Beispiel die Insel bisher nur frühmorgens betrachtet, und dann nur sehr kurz, oder am Abend, wenn sich der Sinn für die Grenzen und Entfernungen verlor. Erst jetzt entdeckte er, daß die Auf- und Abbewegung des Meeres im Wechselspiel der Gezeiten das Wasser während eines Teils des Tages bis fast auf jenen Sandstreifen hinauftrieb, der es vom Wald trennte, und es dann während des anderen Teils so weit zurückfließen ließ, daß es eine klippenreiche Zone freilegte, die, wie Pater Caspar erklärte, den letzten Ausläufer des Korallenriffs darstellte.
Zwischen dem Steigen und dem Fallen des Meeres, fluxus et refluxus oder Ebbe und Flut genannt, erklärte der Pater, vergingen sechs Stunden, und dieser Rhythmus bestimme den Atem des Meeres unter dem Einfluß des Mondes. Mitnichten ginge diese Bewegung der Wassermassen etwa auf den Atem eines Ungeheuers in der Tiefe zurück, wie manche in früheren Zeiten gewähnt hätten - um nicht von jenem Franzosen zu sprechen, der behauptet habe, auch wenn die Erde sich nicht von West nach Ost bewege, stampfe sie doch sozusagen wie ein Schiff von Norden nach Süden und umgekehrt, und bei dieser periodischen Bewegung sei es ganz natürlich, daß der Meeresspiegel sich hebe und senke, wie wenn jemand die Achseln zucke und ihm dabei das Hemd am Hals auf- und abrutsche.
Eine geheimnisvolle Sache seien diese Gezeiten, denn sie variierten je nach Ländern und Meeren und nach der Position der Küsten zu den Meridianen. Als allgemeine Regel habe man bei Neumond den höchsten Wasserstand am Mittag und um Mitternacht, aber dann verzögere sich das Phänomen jeden Tag um vier Fünftelstunden, und wer das nicht wisse und sich, weil er gesehen hat, daß eine bestimmte Wasserstraße zu der und der Tageszeit schiffbar war, zur selben Zeit am nächsten Tage dort hinwage, der lande auf dem Trocknen. Nicht zu reden von den Strömungen, die durch die Gezeiten verursacht würden und von denen manche so stark seien, daß es einem Schiff bei Ebbe unmöglich sei, ans Land zu gelangen.
Und außerdem, sagte der Pater, müsse man für jeden Ort, an dem man sich befinde, eine andere Berechnung anstellen, wozu man die Astronomischen Tafeln brauche. Er machte sogar einen Versuch, Roberto diese Berechnungen zu erklären - daß man die Verzögerung des Mondes beobachten müsse, um dann die Mondtage mit vier zu multiplizieren und das Ergebnis durch fünf zu teilen, oder auch umgekehrt. Tatsache ist, daß Roberto nichts davon begriff, weil er gar nicht recht zugehört hatte, und wie wir sehen werden, sollte ihn dieser Leichtsinn später in arge Nöte bringen. Er begnügte sich damit, jedesmal von neuem seine Verwunderung darüber zu äußern, daß die Meridianlinie, die quer durch die Bucht von einem Kap der Insel zum andern hätte verlaufen müssen, manchmal durchs Wasser und manchmal über die Klippen ging, und er machte sich nie im voraus klar, wann welcher Fall eintreten würde. Auch weil ihm, Ebbe und Flut in Ehren, das große Geheimnis der Gezeiten weit weniger bedeutete als das große Geheimnis jener Linie, hinter der die Zeit rückwärts ging.
Wir sagten, daß er keine besondere Neigung hatte, den Erzählungen des Jesuiten nicht zu glauben. Aber oft vergnügte er sich damit, ihn zu provozieren, um ihn noch mehr erzählen zu lassen, und dann griff er auf das ganze Repertoire der Argumentationen zurück, die er in den Versammlungen jener Pariser honnêtes hommes gehört hatte, welche
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