Die Insel Des Vorigen Tages
er ohne frische pflanzliche Nahrung an Skorbut sterben würde. Es gab zwar die Pflanzen im Unterdeck, aber die würden nur bei Regen auf natürlichem Wege gewässert; sollte es jedoch längere Zeit nicht regnen, würde er sie mit dem Trinkwasser gießen müssen. Und sollte es tagelang stürmen, würde er zwar genug Wasser haben, aber nicht fischen können.
Um sich von seinen Sorgen abzulenken, ging er hinunter in den Raum mit der Wasserorgel, die Pater Caspar ihn anzustellen gelehrt hatte. Er hörte immer nur »Daphne«, weil er nicht gelernt hatte, die Walze auszuwechseln, aber es wurde ihm nicht leid, stundenlang immer dieselbe Melodie zu hören. Eines Tages hatte er die Daphne , das Schiff, mit dem Leib der geliebten Frau gleichgesetzt. War Daphne nicht eine Nymphe gewesen, die sich in einen Lorbeerbaum verwandelt hatte, also in eine Substanz ähnlich jener, aus der das Schiff gemacht war? Also sang die Melodie von Lilia. - Wie man sieht, war die Gedankenverkettung ganz sprunghaft, aber so dachte Roberto.
Er warf sich vor, daß er sich durch die Ankunft Pater Caspars von seiner Signora hatte ablenken lassen, daß er ihm in seine technischen Abenteuer gefolgt war und darüber sein Liebesgelöbnis vergessen hatte.
Jenes einzige Lied, dessen Text er nicht kannte, wenn es je einen gehabt hatte, verwandelte sich in das Gebet, das er nun beschloß, die Maschine jeden Morgen murmeln zu lassen: »Daphne«, gespielt von Wasser und Wind in den Innereien der Daphne , die an die antike Metamorphose einer göttlichen Daphne gemahnte. Jeden Abend, wenn er den Himmel betrachtete, summte er die Melodie vor sich hin wie eine Litanei.
Dann kehrte er in seine Kajüte zurück und schrieb wieder an Lilia.
Dabei machte er sich bewußt, daß er die vergangenen Tage im Freien und Hellen verbracht hatte und sich nun wieder in jenes Halbdunkel flüchtete, das vor der Begegnung mit Pater Caspar sein natürlicher Lebensraum gewesen war, nicht nur auf der Daphne , sondern schon seit mehr als zehn Jahren, seit seiner Verwundung in Casale.
In Wahrheit glaube ich nicht, daß Roberto in all jenen Jahren, wie er wiederholt glauben läßt, immer nur nachts gelebt hatte. Daß er die grelle Sonne gemieden hatte, können wir annehmen, aber als er Lilia verfolgte, tat er es bei Tage. Ich denke, daß seine Krankheit mehr ein Ausdruck düsterer Stimmung als eine wirkliche Sehstörung war: Daß ihm das Licht weh tat, merkte er nur in seinen trübsinnigsten Momenten, und sobald sein Geist durch fröhlichere Gedanken abgelenkt war, achtete er gar nicht darauf Wie immer dem auch gewesen sein mag, an jenem Abend ertappte er sich dabei, daß er zum erstenmal über den Reiz des Schattens nachdachte. Während er schrieb oder wenn er die Feder hob, um sie ins Tintenfaß einzutauchen, sah er das Licht entweder als goldenen Hof auf dem Papier oder als wächsernen und fast durchscheinenden Umriß seiner im Dunkeln liegenden Finger. Als wohnte es im Innern seiner Hand und zeigte sich nur an den Rändern. Ringsum war er in die freundliche Kutte eines Kapuziners gehüllt, beziehungsweise in ich weiß nicht was für ein nußbraunes Schimmern, das, wo es ans Dunkel grenzte, erlosch.
Er betrachtete die Flamme der Lampe und entdeckte, daß sie aus zwei Feuern bestand: Wo sie sich an der vergänglichen Materie nährte, war sie rot, aber aufsteigend brachte sie eine blendendweiße Zunge hervor, die an der Spitze ins Himmelblau ihrer Wurzel auslief Genauso, sagte er sich, brachte seine von einem sterblichen Körper genährte Liebe die himmlische Larve der Geliebten hervor.
Er wollte diese seine Wiederversöhnung mit dem Schatten feiern, nachdem er ihn einige Tage lang verraten hatte, und ging erst wieder aufs Deck hinaus, als die Dunkelheit sich über alles senkte, über das Schiff, das Meer und die Insel, wo man jetzt nur noch das rasche Braunwerden der Hügel sah.
Eingedenk seines heimatlichen Landes versuchte er, am Strand die Leuchtspuren der Glühwürmchen zu entdecken, lebende Funken mit Flügeln, die durchs Dunkel des Waldes segeln. Er sah keine und dachte über die Paradoxe der Antipoden nach, wo die Glühwürmchen vielleicht nur am Mittag leuchten.
Dann legte er sich aufs Achterkastell, betrachtete den Mond und ließ sich vom Schiff schaukeln, während von der Insel das Rauschen der Brandung herübertönte, vermischt mit dem Zirpen von Grillen oder ihren Verwandten in jener Hemisphäre.
Er überlegte, daß die Schönheit des Tages wie eine blonde
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