Die Insel Des Vorigen Tages
begnügte er sich damit, zu tun, was jeder, zumindest als Opfer der eigenen Hoffnung, getan hätte: Ehe man sich der Verzweiflung anheimgibt, wartet man lieber erst noch auf den folgenden Tag.
Wie er das tat, läßt sich schwer rekonstruieren. Indem er auf Deck hin und her ging, indem er keine Speise anrührte, indem er mit sich selbst redete, mit Pater Caspar und mit den Sternen, und vielleicht auch, indem er wieder zum Branntwein griff. Tatsache ist, daß wir ihn am nächsten Tag früh- morgens wiederfinden, während die Nacht verblaßt und der Himmel sich rötet, und dann nach Sonnenaufgang, immer erregter, während die Stunden vorrücken, schon verstört zwischen elf und zwölf, dann völlig fassungslos zwischen Mittag und Abend, bis er sich der Realität ergeben muß und diesmal ohne jeden Zweifel. Gestern, ganz sicher gestern war Pater Caspar ins Wasser der Südsee eingetaucht, und weder gestern noch heute war er wieder aufgetaucht. Und da das ganze Wunder des Antipoden-Meridians sich zwischen gestern und morgen abspielt, nicht zwischen gestern und übermorgen oder morgen und vorgestern, war es nun sicher, daß Pater Caspar nie mehr aus diesem Ozean auftauchen würde.
Mit mathematischer, ja kosmographischer und astronomischer Sicherheit war Robertos armer Freund tot. Und Roberto konnte nicht einmal sagen, wo sein Körper war. Irgendwo da unten. Vielleicht gab es kräftige Strömungen unter der Oberfläche, und der Körper war schon im offenen Meer. Oder vielleicht gab es unter der Daphne einen Graben, eine Schlucht, die Glocke hatte sich hineingesenkt, der Alte hatte von dort nicht heraussteigen können und hatte den wenigen Atem, der immer wäßriger wurde, zum Hilferufen verbraucht.
Vielleicht hatte er sich, um zu fliehen, aus seinen Riemen gelöst, die noch luftgefüllte Glocke war mit einem Satz nach oben gesprungen, aber ihre Eisenteile hatten den ersten Impuls gebremst und sie auf halber Höhe festgehalten, wer weiß wo. Pater Caspar hatte versucht, sich von seinen Stiefeln zu befreien, aber es war ihm nicht gelungen. Jetzt hing sein lebloser Körper in jener Spalte, eingeklemmt zwischen Felsen, hin- und herschwankend wie eine Alge.
Und während Roberto das alles dachte, stand die Sonne des Dienstags schon in seinem Rücken, und der Zeitpunkt des Todes von Pater Caspar Wanderdrossel rückte immer mehr in die Ferne.
Der Sonnenuntergang erzeugte einen gelbsüchtigen Himmel hinter dem dunklen Grün der Insel im Westen und davor ein stygisches Meer. Roberto begriff, daß die Natur mit ihm trauerte, und wie es vorkommt, wenn man eine teure Person verloren hat, beweinte er nach und nach nicht mehr ihren Tod, sondern das eigene Unglück und die eigene wiedergefundene Einsamkeit.
Erst vor so wenigen Tagen war er ihr entronnen, und in diesen wenigen Tagen war ihm Pater Caspar der Freund, der Vater, der Bruder, die Familie und die Heimat geworden. Jetzt machte er sich bewußt, daß er wieder allein war. Und diesmal für immer.
Doch in dieser Niedergeschlagenheit entwickelte sich eine andere Illusion: Er war jetzt sicher, daß der einzige Weg, aus dieser Einsamkeit auszubrechen, nicht im unüberwindlichen Raum zu suchen war, sondern in der Zeit.
Er mußte jetzt wirklich schwimmen lernen, um die Insel zu erreichen. Nicht um einen Rest von Pater Caspar wiederzufinden, der sich in den Falten der Vergangenheit verloren hatte, sondern um den schrecklichen Vormarsch der Zukunft aufzuhalten.
Emblematisches Lust-Cabinet
Drei Tage lang starrte Roberto durch das Bordfernrohr (das andere, stärkere, war ja nun leider nicht mehr brauchbar) auf die Wipfel der Bäume am Ufer. Er wartete auf das Erscheinen der Flammenfarbenen Taube.
Am dritten Tag schüttelte er sich. Er hatte seinen einzigen Freund verloren, saß mutterseelenallein am fernsten aller Meridiane und hätte sich Getröstet gefühlt, wenn ihm ein Vogel erschienen wäre, der vielleicht nur durch Pater Caspars Kopf geschwirrt war!
Er beschloß, sein Refugium noch einmal zu untersuchen, um zu sehen, wie lange er noch auf dem Schiff würde leben können. Die Hühner legten weiterhin Eier, und es gab jetzt auch ein Nest mit Küken. Von den auf der Insel gesammelten Früchten war nicht mehr viel übrig, sie waren inzwischen zu trocken und taugten nur noch als Vogelfutter. Es gab noch ein paar Wasserfässer, aber wenn er das Regenwasser auffing, würde er sie sogar unberührt lassen können. Und schließlich fehlte es nicht an Fischen.
Dann überlegte er, daß
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