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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Größenwahn des Architekten, sondern ein Ethos und ein Pathos: der wahre Baumeister ist nicht angetreten, diese Realität zu reproduzieren und zu spiegeln, sondern um sie zu gestalten und zu verändern. Die »Charta von Athen« enthält, in der Formulierung architektonischer Maximen, eine Anweisung zum richtigen Leben.
      Tadao Ando ist Japaner. Japan hat eine wichtige Rolle für das Neue Bauen im Westen gespielt. Bruno Taut: die Entdeckung der Katsura-Villa als Ereignis für die westliche Architektur.
      Das Bauhaus: nach Toulouse-Lautrec und van Gogh, dem Jugendstil, den Nabis die späteste Anleihe des Japonismus, und in ihrer scheinbar leichten Übersetzbarkeit die nachhaltigste: die reine Koinzidenz von Form und Funktion, die strengste Materialrichtigkeit, schon fast pure Geometrie, und errichtet auf einem einzigen Grundmaß: der Tatami.
      Was fruchtbar ist, allein ist wahr, sagt Goethe. Darum soll die Wahrheit der westlichen Anleihe nicht bestritten werden. Sie beruht trotzdem auf einem Mißverständnis – ich meine, dem fundamentalsten, das zwischen Kulturen möglich ist. Denn es gibt nichts, was weniger kommensurabel, tiefer verschiedenen Geistes wäre als die Grundlagen des Bauens, von denen wir hier reden.
      Die Tatami gibt kein Maß für den aufrechten Menschen ab. Er betritt sie nur, um sich niederzulassen, sei es zum Sitzen, sei es zum Ruhen. Die Matte ist auf den ruhenden Menschen berechnet. Danach bemißt sich alles übrige, Raumhöhe, Raumgefühl, die bewegliche Verbindung der Räume. Die Tatami ist die Grundlage einer Intimität in der Horizontalen. Die vertikalen Elemente des Hauses beanspruchen so wenig Profil wie möglich. Sie sind Stützen für das Dach, das sie weniger tragen, als daß das Dach die Träger durch sein Gewicht stabilisiert und zugleich ihre Elastizität benützt, wenn die Erde bebt. Anderseits dienen die Stützen der Führung leicht verschiebbarer Wände. Sie sind nicht dazu da, einen Raum abschließend zu definieren, sondern um ihn nach Wunsch und Bedacht zu öffnen, dem Drüben oder Draußen einen beweglichen Rahmen zu geben; so wird es zum erweiterten Innenraum – oder zum Bild des Draußen. Ein Bild anderer Art findet sich aber auch im Wohnraum: seine festeste Wand öffnet sich in eine andere Dimension der Betrachtung. Aber auch das Rollbild wechselt mit der Jahreszeit.
      Nichts ist ganz festgelegt in einer Wohnung, der die Reismatte zugrunde liegt. Sie selbst ist aus verderblichem Stoff und muß, wie das Papier der Schiebewände, immer wieder erneuert werden. Es ist eine fast programmatisch vergängliche Konstruktion, das klassische japanische Haus, und bleibt der Hütte verwandt, aus der es hervorgegangen ist. Das gilt auch dann, wenn es, zum Beispiel, eine kaiserliche Villa sein sollte, wie am Katsura-Fluß. Dann besteht die Delikatesse ihrer Einrichtung, die Sorgfalt ihrer Situierung noch augenfälliger mit dem Bewegenden der Gebrechlichkeit zusammen. »So und nicht irgendwie« gilt zwar auch hier. Und doch hat es nichts Herrisches. Nirgends können wir von einem Palast im westlichen Sinn weiter entfernt sein – und nirgends entfernter von der Signatur des Menschen mit dem erhobenen Arm als Maß aller Dinge. »So und nicht irgendwie« ist vielmehr Ausdruck der Ehrfurcht vor allem, was ein anderes Maß hat und eben so, als Baum, als Stein und Gewässer, verwandt ist. Das Maß aller Dinge, wenn schon, ist die richtige Nähe, die gebotene Ferne zu dem, was mit uns ist – nicht der gesicherte Raum, sondern der flexible Zwischenraum. Und da die Dinge sich ändern, wie unser Blick auf sie, ist dieses Maß nie dasselbe. Es bewegt sich mit jedem Tag, der vergeht, und bewegt uns, die langsamer Vergehenden, auch.
      Die Maßgröße, die meinen Blick und mein Verhalten bestimmt, hat Folgen für meine Deutung der Welt, etwa für die Interpretation von »Drinnen« und »Draußen«. Das Männlein mit dem erhobenen Arm ruft mich zwar zur Herrschaft über die Verhältnisse auf. Dennoch, und eben darum, hat es eine heimliche Vorliebe für das Wuchernde, für wilde Gärten, für alles, was es »Natur« nennt – für das Nicht-Ich, sozusagen. Diese Natur ist vielleicht überhaupt die Erfindung des Unbehagens am Eigenen, das Fernweh nach dem ganz Anderen, und es sucht heimliche Fluchtwege dahin, als wäre seine Konstruktion, sein »So und nicht irgendwie« zugleich ein Piranesisches Gefängnis.
      Von der Reismatte aus nimmt sich die Natur nicht so gegensätzlich, nicht

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