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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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junge Ando sah die Quintessenz der Gottheit: Licht. Selbst ohne Gestalt und Form, schafft es alle Gestalt und Form, macht sie plastisch und vieldeutig, läßt sie einen Schatten werfen, läßt sie im Schatten liegen.
      Diese Energiequelle bereitete Ando keine Verlegenheit wie Le Corbusier die neugotische Marie. Japan führt die Sonne nicht nur in der Flagge, es schreibt sich von ihr her. Das Licht: die Realpräsenz des Schöpferischen. Es war ein anderes Licht, das Ando im Pantheon sah, aber kein ganz anderes. Dieses Licht ist stofflos – damit, darauf kann man bauen. Es kommt darauf an, Häuser so einzurichten, daß das Licht sie bewohnt, daß es darin wandert, daß es damit spielt. Damit ein Haus für seine Bewohner da sei, muß es für das Licht da sein, denn nur in diesem Licht wird der Bewohner, was er gewesen ist und sein kann. Nicht er mißt das Licht; er wird an diesem Licht gemessen. Und das ist ein Maß von weiter her als der Mensch.
      Le Corbusier fand es nicht, dieses Maß, an der kleinen, für sich betrachtet unbedeutenden Marienfigur, für die er eine respektvolle Lösung suchte in seinem Ronchamp. Er widmete ihr einen Durchbruch in seinem Beton, wo sie jetzt als Lückenbüßerin steht, ein Schatten im Himmel, der ohne sie offener sein könnte: offen wie die reale Marie das Heilige Grab gesehen hat, offen, wie der Glaube den Himmel immer noch sieht.
      Le Corbusiers Marie ist die Konzession der Architektur an den Glauben. Aber was Ando im Pantheon gesehen hat, war weder Glaube noch Unglaube: es war das Licht an der Quelle unserer Welt, und also im Zentrum der Architektur.
      Bevor ich meinen lückenhaften Kulturvergleich beendige: neben dem Pantheon, lese ich, haben Ando, als Westreisendem, auch die Carceri von Piranesi eingeleuchtet. Es sind Vexierbilder perspektivischer Verwirrung. Der große Architekturporträtist zeigt ein – im doppelten Wortsinn – vermessenes Interieur, das heißt eines, dessen Maßstäbe durcheinandergeraten sind. Der logische – wenn auch unfreiwillige – Fluchtpunkt der Methode ist ihre Verwirrung. Wenn der cartesianische Raum zu spielen beginnt, spielt er verrückt. Wir erleben uns als Gefangene der eigenen Konstruktionen. Kafkas K. bewegt sich in solcher Architektur, die schon im Titel »Das Schloß« den Herrschaftsbezug anzeigt. Dieser Ort entzieht sich der Vermessung, denn es ist ein vermessener Ort. »Das Schloß« ist kein surrealer, es ist ein realistischer Roman.
      Was mag Ando bei Piranesi gefunden haben?
      Er nennt noch einen dritten Architekturzeugen im Westen: Le Corbusier. Damit komme ich zu meiner zweiten Geschichte. Sie handelt von einem Männchen und einer Strohmatte.
      Eigentlich ist es ja die gleiche Geschichte wie meine erste. Das Männchen kennen Sie. Es steht in einem Gitter aus Linien und gibt dessen Verhältnisse, Winkel und Schnittpunkte vor: mit leicht gespreizten Beinen, aufgerichtet und den linken Arm über den Kopf erhoben. Diktatorisch gereckt ist er nicht, er gibt ein Zeichen, das man als Gruß, Aufforderung oder Warnung lesen kann: »So und nicht irgendwie«. Der Mensch sei das Maß aller Dinge, hat schon Protagoras gesagt, übrigens keine Selbstgratulation, sondern eine Besinnung auf die Relativität der Wahrnehmung. Ein Tier, ein Gott nähme ein anderes Maß. Das Männchen aber, das ich meine, steht zur Verbindlichkeit seines Maßes und leitet davon alle übrige Maßstäblichkeit her. Bauen – Stühle, Wohnungen, Städte bauen, das heißt: die Grundverhältnisse des Moduls verallgemeinern. Es heißt umgekehrt: alles Gebaute an diesem Modul messen, darauf zurückführen. Dieser Modul ist die generative Maschine im Zentrum der menschlichen Produktion, wie die menschliche Produktion das Zentrum der nennenswerten Welt ist. Um den Namen Kosmos zu verdienen, muß sie geordnet sein. Der Modulor-Mann, ideal, weil auf geometrisch reine Verhältnisse gebaut, ist auch das Vor-Bild eines vernünftigen Makrokosmos, der Garant einer konstruierbaren Utopie. Die Unités d’habitation sind Variationen oder Vielfache der modularen Grundeinheit. Sie ist verbindlich: wenn eine Berliner Baubehörde ein Corbusier-Haus bestellt, so müssen seine Raumhöhen gelten, nicht die ihren, sie mögen noch so amtlich sein; sonst ist das kein Haus von Le Corbusier. »… so und nicht irgendwie«. Wenn die Realität – die politische, die soziale, die natürliche nicht zum Modul paßt: um so schlimmer für die Realität! Dahinter steckt nicht

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