Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
Streifen zu reißen (aus den Streifen werden Seile gewunden). Nach einer stummen Pause setzt sie sich zu ihm, macht ihm das Zerreißen nach. Aber auch dieser Annäherung bleibt der Mann jede sichtbare Antwort schuldig. Der Bitte, etwas zu essen, kommt er mit einer von der Kamera monumental nachgezeichneten Verspätung nach; nicht der Frau wendet er sich zu, wenn seine Kiefer endlich zu mahlen beginnen. Nun bricht es aus ihr heraus, Tränen, verzweifelte Entschuldigungen; unbeweglich läßt er sie abprallen an seiner hoffnungslosen, gnadenlosen Stille. Der letzte Schnitt zeigt die Frau wieder draußen, ihr Gesicht vor dem leeren Himmel in Großaufnahme ist unendlich traurig, aber gefaßt in der Würde des Unabänderlichen.
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Warum: des Unabänderlichen?
Wer, wie Leute aus unserem Jungen Westen, Liebe eher »Beziehung« nennt und ihre Verwicklungen eine »Kiste«; wer die Sprache bis zur »Aussprache« zu treiben gewohnt ist, wird diesen Szenen die Erschütterung verweigern und diese durch Empörung ersetzen. Was ist da gespielt worden? Subtext: Stell dich an, wie du willst, ich zeige dir, daß du bei mir nicht landen kannst. Und wenn es mir später leid tut, bist du selber schuld. Mit einem Wort: ein Scheißspiel.
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»Erinnern – Wiederholen – Verarbeiten«: in der Zeitung lese ich diese Zwischentitel eines Berichts über eine psychoanalytische Tagung in der Zentralschweiz. Wir glauben an die Möglichkeit, und also die Pflicht, der Entdramatisierung zwischenmenschlicher Konfliktlagen und an die Heilsamkeit des Bewußtsein stiftenden Wortes.
In Japan glaubt man eher, daß »Aussprachen« den Konflikt verschärfen. Wer das Wort ergreift, braucht es als Waffe und will damit recht behalten. Wörter tun, außer Schaden, nichts zur Sache. Hat sich diese in aller Stille erledigt, erübrigen sie sich; andernfalls spitzen sie den Streit zu. Aus einem vergleichbaren Grund werden einem Vortragenden in Japan keine »echten« Fragen gestellt. In japanischen Ohren würden sie den Eindruck vermitteln, der Vortrag habe etwas zu wünschen übriggelassen. Wer fragt, oder wer »sich ausspricht«, übt Kritik.
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In Japan gibt es eine Psychotherapie, die mit Verschuldungsdruck arbeitet. Ein Mensch, der sich herausgenommen hat, unglücklich zu sein, wird zur Einsicht angehalten, wie viele Personen ihm bei wie vielen Gelegenheiten Wohltaten erwiesen haben. Ist er unbescheiden, selbstgefällig, egoistisch genug, diese Liebeszeichen zu ignorieren, zu vergessen? Von Glück muß er reden! Je größer seine Scham, desto wirksamer die Tränen erlösender Reue. Seine Wahrnehmung wird gereinigt. Er ist auf dem Weg zur Besserung.
Im westlichen »Drama des begabten Kindes« hätte er damit den Gipfel neurotischer Verinnerlichung erreicht. Bei uns: die Zementierung primärer Schuldgefühle. In Japan: Wiederherstellung von Geborgenheit.
Nur: Wie lange ist es her, seit die japanische Praxis auch im Westen keineswegs als »Schwarze Pädagogik« galt, sondern als Fortschritt der Menschlichkeit? Pestalozzi fand Schuldgefühle für die Erziehung seiner Waisen probater als Körperstrafen. Denn wie konnte ein Kind, das seinen Erzieher gekränkt hatte, damit leben, daß er seinetwegen die Nacht schlaflos, in Tränen und Gebet, zugebracht hatte?
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Aber: Ist Schuldgefühl in Japan so viel wie Schuldgefühl nach Professor Freud?
Er hat es dem ödipalen Trieb und seiner Zensur zugeschrieben. Arbeit mit dem Konflikt als Sublimationsleistung; an ihrem Gelingen (aber ganz gelingt sie nie) mißt sich die Reife des erwachsenen Individuums, unserer kulturspezifischen Leitfigur. An seiner Triebschuld führt kein Weg vorbei, es kann an ihr nur zerbrechen oder wachsen. Das Über-Ich, Gottes ungnädiger Stellvertreter, wacht über die Pflicht, Wünsche verantwortlich zu entsorgen, die es nicht ganz unterdrücken kann. Das geplagte Ich muß, um der Depression zu entgehen, zur Trauer reifen lernen. Es gewinnt seine Würde, indem es auf Regression verzichtet. Mit dem Heroismus der Individuation ist jeder allein. Die klassische Psychoanalyse ist Einzeltherapie.
Im Kern bedeutet sie immer noch: Wie kommt mein Körper, der mich schuldig macht und in dessen Schuld ich bleibe, zu einem gnädigen Gott?
Schuld auf japanisch hat, wenn ich recht sehe, mit Gott oder meinem Körper nichts, mit einem sozialen Vertrag fast alles zu tun. Er ist ungeschrieben, unausgesprochen, aber als Schuldigkeit wirksam in jeder
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