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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Körper gehalten habe –
      Das ist für Japaner plausibel: sie erkennen das vertraute Modell des Liebestods, das jede Entrüstung beschämt.
      Wir im Westen kommen da nicht mit. Aber wie vertraut sind uns die Bestattungsbräuche im Theben der »Antigone«? Der Schicksalsbegriff der alten Griechen?

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      Die Lücke im System, die das starke Gefühl benützen darf: auch sie hat in Japan System. Die Regel bewährt sich in der Kunst, die Ausnahme aufzufangen.
      Dem auswärtigen Betrachter scheint diese Ausnahmeregelung in der japanischen Kindheit angelegt. Das Kleinkind »darf« in familiären Situationen sehr viel mehr als bei uns – es bringt das Erwachsenenleben zum Stillstand oder in Bewegung, fast nach Wunsch. Dafür verhält es sich in Lagen, wo äußere Rücksichten ins Spiel kommen, sehr viel disziplinierter und kooperativer.
      Der hohe Anpassungsdruck der japanischen Gesellschaft verlangt seine Expansionsgefäße. Der Unterdrückung sichtbarer Gefühle steht der Kult des echten und wahren Gefühls nicht entgegen, sondern gegenüber. Dessen Richtung ist nicht die Revolte, sondern der Rückfall. Er hat, dank seiner infantilen Besetzung, etwas Paradiesisches. Erinnerung an die Zeit, wo das Kind das Unmögliche durfte: schreien, trotzen, jammern, sich beklagen, die Mutter besitzen mit Haut und Haar, den Vater stören und vertreiben. Daß dies alles »unmöglich« ist, lernt es auf der einen Schiene, die nach draußen in die Gesellschaft führt; die andere führt auf demselben Unterbau in die Geborgenheit zurück. Das Kind im Erwachsenen darf diesem immer noch, immer wieder, etwas schuldig bleiben. Hinter der Fassade der Disziplin deckt sich die Unart. Sie lebt von der Erinnerung, daß sie einmal eine erlaubte Zumutung an die elterliche Liebe war. Der Alkoholrausch schwimmt in dieser Erinnerung; er drängt nicht, wie bei uns, zur Aggression, und was er bei andern anrichtet, lassen sie sich nicht nahegehen. Auch der Liebestod, als forcierte Lizenz, ist ein Grenzfall »kindlichen« Verhaltens: die paradoxe Dramatisierung des Wunsches, angenommen zu werden, eine Provokation des Familiensinns in der Gesellschaft. Die Ehrfucht, welche diese solchen Helden erweist, ist ein Kompromiß zwischen der Pflicht, an der Provokation nicht zu zerbrechen, und der Scham, daß die Familie Kinder, die ihren Wert unter Beweis gestellt haben, nicht daran hindern konnte, zu zerbrechen.

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    Kurosawas Ran ist, bei aller destruktiven Energie, ein Familiendrama, denn die Triebkräfte und Bindungen des japanischen Feudalismus sind familiär; wo im »König Lear« das Tragische sitzt, breitet sich in der japanischen Version das kriegerische Melodram aus. Die Jammer-Suaden und -Litaneien des Kabuki oder Puppenspiels sind ein verstärktes Kinderweinen; es bezieht seine Resonanz aus der Tatsache, daß »draußen« in der Gesellschaft nichts so verpönt wäre wie Jammern und Weinen, »drinnen« im Hause nichts so unwiderstehlich.
      Expansionsgefäße für den Druck im japanischen Alltag.
      Das gemeinsame Trinken mit den Arbeitskollegen, bei dem, streng begrenzt, auch die Hierarchie liquidiert werden kann: eine nutzbringende Lizenz, insofern ein Bestandteil der Arbeitszeit. Rücksicht auf die Gefühle Untergebener ist der familiäre Faktor der Betriebshierarchie – und das Geheimnis ihrer Effizienz; dafür müssen negative Gefühle geäußert werden dürfen. Ohne Folgen für die Person, wohl aber für das System, das dabei etwas über sich lernt.
      Westliches Management, auf rasche (und einsame) Entscheidungen programmiert, verliert die Zeit und Energie, die es gespart zu haben glaubt, beim »Verkauf« dieser Entscheidungen an das Personal, das sie auszuführen hat. Das japanische Management beteiligt es daran und gewinnt, bei scheinbarer Unschlüssigkeit, den Vorsprung umfassender Motivation. Wie bekannt, setzt er sich in Marktvorteile um. Das berücksichtigte Gefühl wird zum Faktor der Rationalität.
      Eine Entscheidung wird nicht »getroffen«. Sie »fällt« im Prozeß der Suche nach ihrer Richtigkeit.
      Der Regreß auf die Unteren als energieschonende Sozialtechnik.
      Regression auf die Kindheit zum Unterlaufen von Konflikten – Sexualität als Kinderspiel?

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    Dazu eine Geschichte:
      Eine europäische Familie hat eine japanische Studentin zu Gast, die schon viele Jahre in Europa verbracht hat. Im Fernsehen läuft eine Sendung, in der Gerichtsfälle nachgestellt und dem Publikum zur Urteilsfindung

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