Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
Verhaltensnorm. Man verletzt ihn, indem man sich isoliert, etwa durch auffälliges Leiden. Damit legt man Vorwitz und Anmaßung an den Tag und muß ins Gehege gemeinschaftlicher Disziplin zurückgedrängt werden, notfalls mit aller Härte. Die wichtigste Vertragsklausel lautet auf gegenseitige Schonung der Gefühle. Wer sich eine Abweichung oder Ausnahme erlaubt, hat sie diskret zu behandeln. Der Tribut an die Norm darf rituell bleiben. Geschuldet wird er auf jeden Fall.
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Freilich: Auch die Ausnahme, die sich durchaus nicht halten oder begrenzen läßt, genießt in Japan einen dunklen Respekt. Der doppelte Liebestod kommt nicht nur im Theater vor: er ist noch immer ein Stück statistischen Alltags in Japan. »Liebestod«: fast ein Pleonasmus in einem System, das durch
prästabilisierte Bindungen -Familie, arrangierte Heirat, Feudalund Firmenloyalität – definiert ist. Der Anspruch auf persönliches Glück (the pursuit of happiness der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung) ist vermessen per se: er bricht den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag. Zugleich zahlt er diesem seine Schuldigkeit und schafft sich selbst aus der Welt.
Ein Extremfall von Entschuldigung, ein moralischer und ästhetischer Eklat, der das japanische Publikum unerschöpflich fasziniert. Der Täter als Opfer seiner selbst liefert den Tatbeweis für den Ernst seiner Gefühle. Er entwaffnet den Widerspruch, er erschüttert und bekräftigt das System in ein und demselben Akt. Von dieser Erschütterung lebt die japanische Dramaturgie nicht nur im Theater. Für westliche Augen hat ihre Folgenlosigkeit etwas Melodramatisches. Das System beugt sich unter dem Gewicht des Leidens, das es hervorbringt, und ist zugleich stolz darauf.
Ein Fall, wo es die Verbeugung bisher verweigert hat: der phantastisch inszenierte (Doppel)-Selbstmord eines seiner bedeutendsten Dichter, Mishima Yukio, und seines Helfers. Mit seiner Demonstration für ein maskulin restauriertes Vorkriegs-Japan versetzte er die Leistung der Nachkriegsjahre in den Anklagezustand. Da sein Opfer auf diesem Hintergrund nicht annehmbar war, wurde es für verrückt erklärt (das könnte sich ändern).
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Vor einigen Jahren ging in Santa Monica, Kalifornien, eine japanische Mutter der ersten Einwanderergeneration mit ihren beiden Kindern ins Wasser. Mit diesem Zeichen äußerster Verzweiflung wollte sie den Lebenswandel ihres Mannes beschämen. Die Kinder ertranken; sie wurde gerettet. Das USGericht, durch Gesetz verpflichtet, die tragische Täterin zu bestrafen, wurde in Leserbriefen japanischstämmiger Amerikaner scharf kritisiert. Die Mutter habe verantwortungsvoll gehandelt, als sie den Kinder ein Leben unter solchen Umständen nicht zumuten wollte. Als zu ihrem Unglück Überlebende sei sie erst recht als Opfer zu betrachten und zu behandeln.
Eine japanische Mutter bereitet ihren Sohn auf die Aufnahmeprüfung in die Schule vor, die nicht nur seine Zukunft bedeutet, sondern auch ihre. Er fällt durch, es ist Frühling, er legt sich unter den Zug. Mit seinem Tod sagt er der Mutter: Verzeih mir, daß ich es nicht ertrage, die Mühe, die du dir für mich gegeben hast, nicht gerechtfertigt zu haben.
Eine solche Dramatisierung gegenseitiger Schuldigkeit ist in Japan nicht weniger schauderhaft, als sie es bei uns wäre. Doch für unbegreiflich hält sie niemand.
Nicht einmal den Tod des Mädchens, das sich im Liftschacht seiner Schule zu Tode stürzt, nachdem es täglich von Mitschülerinnen wegen seiner auffälligen Tasche gehänselt wurde. Mit dem Fingernagel hat es eine letzte Nachricht in die Liftwand gekratzt: Sie entschuldige sich, daß sie einer bestimmten Freundin diesen Tod antue, aber sie könne nicht anders.
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Noch eine Szene aus Kurosawas Dodeskaden: Ein junges Mädchen besorgt dem Mann ihrer Tante, die im Spital liegt, den Haushalt. Eines Tages mißbraucht der »Onkel« das von ihm abhängige Kind; daß er als Vormund dazu keine Gewalt nötig hat, macht seine Tat noch erbärmlicher. Nachdem das Mädchen schwanger geworden ist, bringt sie dem jungen Ausläufer, der ihr als einziger Mensch Aufmerksamkeit geschenkt hat, beinahe tödliche Messerstiche bei.
Er kann ihr dafür nicht böse sein, will immerhin wissen: Warum hast du das getan? Da spricht sie endlich (denn bisher war sie stumm): Sie war es ja selbst, die sterben wollte. Was sie nicht mehr zu sagen braucht: Was für ein Liebesbeweis, daß ich mich für mein stärkstes Gefühl an deinen
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