Die Insel: (Inseltrilogie #1) (German Edition)
ganzen Aufregung.
Walt kommt herüber und leistet mir Gesellschaft. Wir schauen gemeinsam schweigend hoch zu den Sternen im dunklen Himmel.
„Tut mir leid“, sagt er schließlich und klingt aufrichtig reuevoll.
„Wofür?“, frage ich.
Unbeholfen legt er eine Hand auf meine Finger, die die Reling umfassen. „Ich wette du denkst, ich sei ein arroganter Angeber.“
„Ja, so in etwa“, gebe ich offen zu.
Sein Gesicht verzieht sich. „Oh.“
„Tja, du benimmst dich so.“
„Das stimmt.“
„Aber es tut dir leid?“
„Ja. Weil ich eigentlich gar nicht so bin.“ Er holt einmal tief Luft. „Ich weiß einfach nicht wie ich mich in deiner Gegenwart verhalten soll. Deswegen mache ich so auf starken Mann.“
Oh. Das habe ich ja so gar nicht erwartet. Ich werfe ihm einen nervösen Blick zu. „Ähm, ja, das ist mir schon aufgefallen. Ich, äh, fühle mich auch so, wenn ich in deiner Nähe bin. Deswegen werde ich so schnippisch.“
Walt nickt langsam. Die Küste kommt auf unserer linken Seite näher. Oder die „Backbordseite“ wie sie der Kapitän nennt. Wir sind fast am östlichen Strand und der Moment der Wahrheit ist da.
„Wirst du an meiner Seite bleiben, wenn wir an Land gehen?“, fragt er mich leise.
Ich grinse etwas unbeholfen. „Und soll riskieren, dass du den Starken markierst?“
Er unterdrückt ein Lächeln. „Ich werde versuchen, mich zurück zuhalten.“
„Okay. Dann ist alles in Ordnung.“
Walt wirft einen Arm um mich, zieht mich zu sich und küsst mich sanft auf die Stirn, bevor er geht und sich zum Kapitän gesellt. Sein Duft bleibt in meiner Nase als ich ihm hinterher sehe. Er riecht gut.
Der Kapitän ist damit beschäftigt, seine Steuermänner anzuweisen, dass Schiff so nah wie möglich zur Küste zu bekommen, bevor der Anker gesetzt wird. Wir müssen mithilfe von kleineren Booten – Schaluppen werden sie genannt, erzählte mir Walt – von Bord gehen, um so zum Strand zu gelangen. Es dauert gefühlt Jahre, bis wir alle am östlichen Küstenstreifen stehen. Jeder Moment, in dem ich nicht weiß, was mit Colin und den anderen geschehen ist, scheint ein Leben zu dauern. Ihnen könnte gerade alles mögliche zustoßen und ich kann nicht aufhören, mir eine schreckliche Situation nach der anderen auszumalen.
Als wir uns endlich nach Newexter aufmachen, übernehme ich die Führung und schlage ein straffes Tempo an. Die Wälder sind dunkel, aber ich kenne die Wege hier wie meine Westentasche. Die Nacht ist pechschwarz und es liegt eine gewisse Spannung in der Luft, wie mir auf dem Weg ins Dorf auffällt. Schon bevor wir in meinem alten Wohnsitz ankommen, bemerke ich, dass etwas vor sich geht. Obwohl es spät ist und kein Mond scheint, sind alle wach. Gereizte Stimmen sind vom Dorfplatz zu vernehmen. Überall sind Feuer entzündet und als ich mit der Armee des Buchhüters im Schlepptau am Platz ankomme, eilt mir der Älteste mit meiner Mutter an seiner Seite entgegen.
Ihm klappt die Kinnlade runter, als er die anderen sieht. „Wer sind die?“
„Narren“, antworte ich. „Sie sind hier, um uns zu helfen.“
Meine Mutter nimmt meine Hand und zieht mich in eine warme Umarmung. „Du bist noch am Leben,“ stammelt sie. „Colin war sich nicht sicher, ob du...“
Colin. „Wo ist er? Ist er hier? Konnte er entkommen?“
Sie nickt. „Er und Pete kamen so schnell wie möglich zu uns und die anderen Jugendlichen kamen bald darauf. Colin war sich nicht sicher, ob du es geschafft hast, Sauls Schlägern zu ent kommen; er war krank vor Sorge.“
„Was ist mit Andy?“ Ich schaue mich um. „Wo ist Andy?“
Meine Mutter schüttelt den Kopf. „Er hat es nicht geschafft.“
Mein Magen dreht sich um. „Was? Ist er...“
„Er ist im Herrenhaus“, erklärt der Älteste schnell. „Saul hält ihn gefangen. Wir waren dort, aber Saul weigert sich, seine Position aufzugeben. Wenn wir angreifen, wird Andy sterben, sagt er.“
„Was wird jetzt geschehen?“, fragt Walt leise, als er an meine Seite tritt. Er versucht wirklich, in meiner Nähe zu bleiben.
Ich atme einmal durch, sehe mich in dem Kreis der Leute um, die sich versammelt haben, um dem Gespräch zwischen mir und dem Ältesten zu lauschen. Ich sehe Maras Augen, rot und verquollen, weil sie wegen Andy geweint hat. Ich ertappe meinen Bruder dabei wie er mich erwartungsvoll anschaut. Noch nie haben Menschen bei mir Rat gesucht, doch es fühlt sich gut an. Es fühlt sich richtig an. Ich habe es begonnen, ich werde es auch
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