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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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wahrscheinlich nichts Merkwürdiges. Nicht ganz klar ist nur, wie und auf welche Weise genau die Umstände unsere Wahl vorherbestimmten: sie zur Notwendigkeit machten; wie und auf welche Weise sich aus der Unmenge von Möglichkeiten die eine als die einzig tatsächlich mögliche herauskristallisierte, die zudem nicht unbedingt die erste von dir oder mir ins Auge gefasste war. Auch du, nehme ich an, hättest wohl nicht einmal zwei krepierte Mistkäfer darauf verwettet, dass ich dein erster, wenn ich so sagen darf, Expeditionsleiter würde.
    Denn, pardon, lieber Freund, aber es ist nun einmal so: Als wir uns kennenlernten, warst du neun – ich folglich siebzehn Jahre älter. Ein ausreichend großer Unterschied, um die trügerische Vorstellung eines unüberbrückbar uns trennenden Abstands aufkommen zu lassen. Wo war es? Irgendwie fällt mir der Waldaj-See ein, eine Forststation noch aus der Vorkriegszeit, die Mischa sich zurechtgemacht hatte: ein Haus, dazu ein solider Blockschuppen, eine halb im Gras verborgene Banja, mächtige, bis dicht ans Haus heranrückende Tannen, ein steil abfallendes Ufer und Stufen, die zu einem Bach mit sandigem Grund und eisig-klarem Wasser führen …
    Ja, wahrscheinlich sind wir uns zum ersten Mal im Haus deines Vaters begegnet, folglich in seiner Welt, der Welt deiner Kindheit, der Welt deiner Familie. Die Bleistiftzeichnungen deiner Großmutter: ein Auerhahn, der in der Vorfrühe mit zurückgeworfenem Kopf im Dunkel eines dichten Waldes auf einem Kiefernast hockt; ein Lichtklumpen, der hinter dem düsteren Gewebe des Astwerks emporsteigt – ein Klumpen, der sich noch nicht gerundet, noch nicht zur Sonne verdichtet hat, aber auch kein diffuser dämmeriger Schleier mehr ist … Eine herrliche Zeichnung! Auch diese andere: Ein Wolf, der von fern das Forsthaus beäugt. Dunkelheit ringsum. Nur in einem Fenster brennt Licht – bestimmt steht dort eine Kerosinlampe auf dem Tisch. Es gab keinen Strom auf der Station, und wenn die Nacht kam, wurden Kerosinlampen angezündet, und im Haus verbreitete sich ein wundersames, warmes, goldschimmerndes Licht, lange Schatten krochen über die Wände, die Falten der Kleider (die nach Wald und später nach Rauch rochen) und die Bücherregale voller Nachschlagewerke, Kartenstapeln und einem halben Dutzend Lieblingsbücher, von denen mir nur Aldo Leopolds
Am Anfang war die Erde
im Gedächtnis geblieben ist; auf dem Tisch standen noch ein Mikroskop und eine Waage im Futteral … Sich an der Lampe eine Zigarette anzustecken hielten wir für besonders schick, erinnere ich mich. Wir bliesen den Rauch in den Ofen, vor dem wir hockten mit Blick auf die rotglühenden, zerfallenden Kohlen, über die die Hitze blaue Flammen hinwegstreichen ließ …
    Und hier noch eine Zeichnung: jene steilen Stufen hinunter zum Bach, zu dem wunderbaren kleinen Waldbach mit seinen Untiefen und Kolken, wo Plötzen stehen, flink, silbrig, mit einem Tupfen Rot im Auge; die Sonnenstrahlen dringen durch die Wasserschichten bis hinab auf den Grund, bis hinab zu den bunten kleinen, von der zittrigen Gaze der Birken, den schweren Tannenzweigen und den Ebereschenblättern schattengemusterten Kieseln …
    Oh, da fällt mir ein: Wir gingen tauchen, du und ich!
    Wir gingen zum Bach hinunter, zu einem der Kolke. Ich wusste, ich musste mich beherzt ins eisige Wasser stürzen, um nicht meinen Mangel an Courage zu verraten, denn du warst ganz der Sohn deines Vaters, Petka, hast also getestet, wie ein Junge testet, wer was taugt. Ich habe ein reinigendes Waldbad immer gemocht, aber eben als Bad, als kurzes Eintauchen ins kalte, von mit in die Tiefe gerissenen Luftblasen durchbrodelte Wasser, aber als du neben mir aufgetaucht bist und, kaum hatten deine feuchten Wimpern sich voneinander gelöst, mich fragtest: »Na, schaffst dus, bis zu dem Baumstamm da zu tauchen?« – eine Einladung, noch länger sich in der eisigen Strömung zu tummeln –, beeilte ich mich von meinem Recht, als Erwachsener ewig beschäftigt zu sein, Gebrauch zu machen, und sprang mit Verweis auf irgendeine Sache ans Ufer, womit ich mir einen leicht spöttischen Blick von dir einhandelte …
    Ja, dein Vater oder ich, wir waren erwachsen, wir hatten weder die Heldentaten noch die Missetaten des Sisyphos begangen, aber wir kannten den Fluch seiner Arbeit: stumpf und ohne nachzudenken wieder und wieder den Stein des Lebens den Berg hinanzuwälzen. Du dagegen gehörtest noch ganz der kindlichen Märchenwelt an: der Welt des Bachs,

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