Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Dinge gewiss vom Fleck bringen, denn was immer man sagt: jedes Projekt verlangt nach
Umtriebigkeiten
, ja, meiner Ansicht nach sind
Umtriebigkeiten
absolut unverzichtbar für das Gelingen eines Projekts. Und so rief ich in diesem entscheidenden Augenblick besagten Freund an, damit er schon einmal den Alkohol ordentlich reinigt, den wir einpacken würden, aber er tat auf einmal, als hätte es nie irgendein Gespräch über Kolgujew gegeben:
»Kolgujew?! Ich fahre nach Deutschland …«
Was mich besonders verblüffte, war der Ärger, der unvermittelt in seiner Stimme mitschwang. Ich zitterte, als ich auflegte. Aber klar, warum nicht … Deutschland, dann halt Deutschland … Keiner ist irgendwem zu irgendwas verpflichtet. Die Insel ist mein persönliches Problem, und ich sollte es keinem anderen aufdrängen. Und was seine Quasi-Zusage betrifft, so muss man ja schon ein ziemlicher Naivling sein, um Worten Glauben zu schenken, die einer Momentbegeisterung entspringen.
Ich musste also wieder allein auf brechen auf die Insel. Nicht, dass mich das besonders ängstigte, aber allein konnte ich nicht vollbringen, was ich mir doch selber ausgedacht hatte. Ich war mir selbst nicht genug: Ohne einen Weggefährten haute alles nicht hin, haute schon gleich die Gestalt meiner Expedition nicht hin. Eine Expedition mit nur einem Teilnehmer? Das klingt so defizitär wie prätenziös. Schließlich ist eine Expedition auch eine Art Schauspiel, dessen unverzichtbare Rollen einer allein nicht bewältigt.
Wer könnte der andere sein?
Einen anderen gab es nicht.
Ich weiß nicht, warum ich damals wieder bei euch im Forsthaus auftauchte. Du warst da. Ich sah einen schönen, kraftvollen, rundum selbstständigen sechzehnjährigen jungen Mann, der in einer Familie aufgewachsen war, in der auf Forschungsreise zu gehen zum guten Ruf gehörte … Es hatte mich immer erstaunt, dass dein Vater als Vierzehnjähriger auf brach, um zwei Monate lang als Schiffsjunge auf einem Fischfangkutter des Kandalaschka-Naturschutzgebiets übers Weiße Meer zu fahren – wobei mich nicht einmal so sehr erstaunte, dass ein Achtklässler mit Erwachsenen zwei Monate lang alle möglichen Strapazen einer Reise durchsteht, sondern, dass seine Eltern es erlauben. Die Kola-Halbinsel ist immerhin nicht die Krim, da kannst du machen was du willst … Deine Großmutter, Pjotr, diese imposante junge Frau auf einem alten Foto, mit einem Kamillenstrauß in den Händen und einem weißen Kranz im Haar, war leichtsinnig, wunderbar kühn … Genauso kühn wie deine Mutter, Petja …
Der Schluss, den ich zu ziehen hatte, drängte sich von allein auf, aber anscheinend musste es in meinem Kopf noch etwas weiterhakeln, ehe alles einrastete. Ob dus glaubst oder nicht, das passierte, während wir mit dem Minitraktor den geklauten Dung aus der Jauchegrube der ehemaligen Sowchose abfuhren. Der weite Himmel, die Roerich-artigen Wolken, gleichsam luftgebaute Festungen, die smaragdgrünen Hügel, der frische, ausnüchternde Geruch des zusammengepressten, dunklen, strohdurchmischten Dungs – alles gab unserem Tun etwas Reckenhaftes bei, einen besonderen Eifer, die Emsigkeit des Skarabäus, des heiligen Käfers der alten Ägypter, der von Ewigkeit zu Ewigkeit eine Dungkugel vor sich herrollt wie über den Himmel die Sonne; Kugel geschmolzenen Goldes, Feuerkugel, Lichtkugel … Nicht einen Stein, wohlgemerkt, nicht den verfluchten Stein des Sisyphos, sondern die Kugel des zweckgerichteten Mühens, der Fruchtbarkeit und der Hoffnungen! Der Mythos des Sisyphos, durchzogen von Individualismus und titanischem Leidensschmerz, konnte nicht im alten Ägypten entstehen, obwohl man meinen könnte, die Erbauer der Pyramiden sollten etwas von jenem ewigen menschlichen Mühen verstanden haben, welches das Leben speist in seinem Aufstieg zum Tod. Aber ist Sichmühen denn Bestrafung? Es ist Bestimmung. Des Skarabäus Mühen ist gedankenlos und leicht. Ewig und heilig: Solange der Mistkäfer in seiner Höhle die kleine Dungkugel vor sich herrollt, so lange rollt auch die Sonne über das Firmament und ergießt ihr Gold auf die Erde …
Weil wir den Anhänger mit etwas mehr Dung beladen hatten, als unser kleines Treckerchen bergauf zu ziehen vermochte, gerieten wir in einer regenglitschigen, morastigen Steigung ein paarmal ins Rutschen; die Räder drehten durch, wir mussten abspringen und von beiden Seiten unter Auf bietung all unserer Kräfte Traktor und Anhänger schieben, damit sie nicht in den
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