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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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seiner Wasser, der bernsteinernen Lichtflecken und der silbrigen Fische im Schatten unter der Böschung … Du kanntest seine Quelle: den See, die alte, noch von Mönchen erbaute Schleuse, deren Winde und die einem primitiven Uhrwerk nicht unähnlichen massiven Zahnräder, den Abflussspalt … Bestimmt hast du manchmal überlegt, was passiert, wenn man das eichene Schleusentor mit der Winde nach oben zieht und der See sich in den Wald ergießt. Gibs zu, du hast es überlegt; auch ich habe manchmal davon geträumt zu hören, wie das Wasser die von der langsamen Strömung mühselig ausgeschnittenen Muster der Uferlinie einreißt und der Wald unter der eindringenden Welle zu zittern und lärmen beginnt … Aber was würde dann aus der Welt? Das wusstest du nicht; du kanntest den Anfang, aber nicht das Ende. Sind wir denn nicht alle so? Aber natürlich … Wir tun nur so, als wüssten wir etwas wirklich, weil wir uns aus irgendeinem Grund scheuen zuzugeben, dass alles noch genauso unklar ist wie seinerzeit, da wir als Kind verzaubert um uns blickten. Das große Geheimnis der Kindheit … Und welch erhabener Rahmen dafür: dieser Bach und der Wald, der erfüllt ist von der Pracht der Moose und der Tempelsäulenherrlichkeit der Bäume; erfüllt von einem ewigen Brandungsrauschen, von Gerüchen, Vogelgetriller und anderem scheuen Laut, durch den das geheime Leben des Waldes sich verrät: das krallige Scharren der Eichhörnchen in den zapfenschweren Wipfeln der Tannen, der leichte Schritt des von seinem Lager aufgeschreckten Elchs, der ferne Wirbel des Spechts oder das eher einem Schatten als einem Geräusch gleichende Streichen des Wolfs durchs niedrige Ufergebüsch, der von weitem das Leben der Menschen im Forsthaus beobachtet …
    Wo war deine Zuflucht in diesem Wald, deine Lieblingsecke, die jeder kleine Junge hat? Ich wusste es nicht. Einmal hast du mir auf dem Saum eines heißen, nach Ameisen riechenden sandigen Waldwegs gezeigt, wie der Ameisenlöwe seine Beute fängt – ein merkwürdiges unsichtbares Geschöpf, das sich am Grund eines in den Sand gegrabenen kleinen Trichters versteckt. Ich sah, wie eine große rote Ameise, die eine Tannennadel zwischen den Mandibeln bugsierte, zufällig auf den Rand dieser scheinbar harmlosen Vertiefung geriet, worauf deren Grund sofort erbebte, als breche da ein Liliputvulkan aus, und ein Strahl Sandkörner traf die Ameise, die mit ihnen abwärts zu rutschen begann. Sie wollte noch davonlaufen, aber nichts da: Die Sandkörner prasselten hartnäckig auf sie ein, sie mit jedem Zurückrieseln tiefer dem Zentrum des Trichters entgegenreißend, von wo plötzlich – den Bruchteil einer Sekunde nur – ein im Vergleich zu seinem Opfer riesiges sandfarbenes Wesen hervorschoss, die Ameise mit seinen massiven Mundwerkzeugen packte und wieder unter der Erde verschwand.
    Ich war beeindruckt, und du – sehr zufrieden damit. Mir fiel wieder ein, wie ich selber als Junge mich freute, wenn meine Geheimnisse … wie soll ich sagen: auf die Erwachsenen eine Wirkung hatten, als ob sie nie Kind gewesen wären. Und natürlich konnte auch ich damals nicht glauben, dass ich eines Tages selber den größten Teil meines sagenhaften, mir uneingeschränkt zur Verfügung stehenden Kinderwissens vergessen würde …
    Als ich zum ersten Mal auf eigenes Bangen und Risiko zu der Insel auf brach, warst du vierzehn Jahre alt. Wenn ich also von meinen damaligen Abenteuern erzähle, so erinnere du dich an jenen Sommer, in dem du lange Zeit, einen ganzen Monat, eine Ewigkeit, allein auf der alten Forststation verbracht hast. Einmal kreuzten wir mit Mischa zufällig auf und entdeckten die Spuren einer gigantischen, die Kräfte jedes Erwachsenen übersteigenden Arbeit (insofern er nämlich für Müdigkeits- und Genussanwandlungen anfällig ist): das Haus war in seinem Innern total umgekrempelt. Auf der sonnenbeschienenen Fensterbank lagen ein Hammer, eine Zange, eine Handvoll geradegeklopfter Nägel. Es war dem Zufall geschuldet, dass wir auf kreuzten, und ist auch dem Zufall geschuldet, dass ich gerade diese Gegenstände im Gedächtnis behalten habe und unsere Begrüßung und dich: wie du – aus unerfindlichem Grund zwischen wuchernden Brennnesseln – beunruhigt unter dem Schirm einer verschlissenen baumwollenen Armeemütze hervorlugst und vielleicht ein wenig zu leutselig fragst: »Na, was führt euch her?«
    In jenem Sommer brauchten wir einander nicht. Zumindest brauchtest du uns nicht. Vierzehn, das

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