Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
glaubst oder nicht, aber bis es soweit war, vergingen noch einmal zwei Jahre. Wer wollte da noch behaupten, dass Odysseus, der sieben Jahre lang bei der Nymphe Kalypso Gefangener seines Zauderns war, uns nicht geistesverwandt ist in diesem seinem Wanken?
Ich wollte zusammen mit jemandem zu meiner Insel aufbrechen und glaubte, leicht einen Weggefährten finden zu können. Tatsächlich reagierten die meisten meiner Bekannten zunächst begeistert auf den Vorschlag, an einer echten borealen Odyssee teilzunehmen. Dann folgten die Fragen: Und was kriegen wir zu Gesicht? Was gibt es dort? Lässt sich ein Film draus machen? Eine Fotoreportage? Worüber? Worüber noch, außer über die Natur?
Ich wusste keine Antworten auf diese Fragen. Ich hatte sehr vieles nicht bedacht. Unter anderem, dass die Zeit, »einfach so« zu reisen, vorbei war. Weshalb die Idee mit der Insel vielen als blanker Unsinn und pure Zeitverschwendung erschien. Und tatsächlich mussten sie ja nicht genauso denken wie ich. Dann kam noch der Augustputsch von 1991 dazu, die Aufmerksamkeit der schreibenden Zunft wie der Leser war ganz von den Ereignissen absorbiert, die bis ins Jahr 1993 und noch weiter reichten. So dass all meine Versuche, meinen Kollegen eine Insel in den Blick zu rücken, nur Ärger hervorriefen.
Bis schließlich eine meiner Kolleginnen aus der
Literaturnaja Gaseta
– eine bemerkenswerte Journalistin –, nachdem sie sich wieder einmal meine diesbezüglichen Klagen angehört hatte, mit erbarmungslos spöttischem Lächeln sagte:
»Du faselst schon so lang von deiner Insel, dass du wahrscheinlich nie dort hinkommst …«
Da gingen bei mir die Lichter an.
Ich telefonierte mit Archangelsk und erfuhr, dass die Linie Archangelsk – Narjan-Mar eingestellt worden war. Und ausgerechnet nach Narjan-Mar waren auch die Flugtickets ausverkauft. Blieb noch der Zug: bis Petschora, und von dort mit dem Schiff stromabwärts bis Narjan-Mar – die älteste Route, der Weg der Ersten, die in den Hohen Norden auf brachen …
Ich kaufte eine Bahnkarte und fuhr los. Alleine. Ohne jede Vorbereitung – was natürlich nicht folgenlos blieb. So hatte ich gemahlenen Alvorada-Kaffee dabei, ein deutsches Produkt, viel zu stark gebrannt, ungenießbar, reinster Dreck, dazu Gitanes ohne Filter – insofern war ich nicht schlechter ausgerüstet als der Superman aus der Camel-Reklame. Aber meine Winterjacke hatte ich dafür zu Hause gelassen, weil ich glaubte, mit einem Rollkragenpullover und der Regenjacke auszukommen …
Klar, all das war dumm, aber ich spürte, dass … Dass ich mich später vielleicht nicht mehr würde entschließen können und auf immer und ewig ein hochqualifizierter Fortschrittskritiker bliebe. Dass ich meine Reise nie machen und nie mein Wort sagen würde, ja nicht einmal erführe, welches es wäre …
Weißt du, was es bedeutet, sein Wort zu sagen, Petja?
Petja!
Du schläfst wohl schon lange, mein Freund, wie?!
Schlaf. Ich habe diese Insel errungen. Alleine. Und jetzt, da teile ich sie mit dir, wie Brot, schenke sie dir – mit ihren braunen Lehmbänken, die bei Ebbe aus dem Meer auftauchen wie der urzeitliche Grund der Erde, mit ihren unzähligen Gänseschwärmen, ihren Flüssen und Bächen, dem vorjährigen Schnee und den Senken zwischen vergissmeinnichtüberbläuten Kuppen, mit all den Entzückungen, die sie der Seele einzugeben vermag, und all der tödlichen Erschöpfung, die einen überkommt und wie Finsternis einhüllt, obgleich es hier im Sommer nicht Nacht wird. Du schläfst – was bedeutet, dass du die Gabe annimmst. Fortan wird die Insel Teil deines Schicksals sein, vielleicht sogar ein Ring, schwer behangen mit einer Traube von Schlüsseln, die andere Türen an anderen Enden dieser Welt öffnen …
4 Eine transportable Hütte auf Kufen. [Anm.d.Ü.]
Pjotr
Mein Freund Pjotr, mein treuer Weggefährte! Du sollst wissen, wie du in dieser merkwürdigen Verkettung von Umständen aufgetaucht bist, wie du Teil des Plans wurdest – nicht einfach meines, nein: sondern jenes Plans, dessen Teil wir beide wurden, um dessen Ausführung willen wir einander getroffen haben. Jetzt, nach all den Jahren, die vergangen sind, begreife ich, dass nichts, nicht einmal mein Hinauszögern, umsonst war. Im Hinauszögern stellte die Zeit meine Entschlossenheit auf die Probe. Die Zeit zog mir einen Reisegefährten heran.
Dass gerade du es sein würdest, der Sohn meines besten Freundes, des Geographen Mischa Glasow – nein, daran ist
Weitere Kostenlose Bücher