Die Insel - Roman
neugierig, was sich hier zugetragen hatte. »Okay, sagte ich. »Ich bleibe noch ein bisschen.«
»Danke«, sagte Erin.
»Wann sind sie … hergekommen?«
»Connie und die anderen? Vor etwa einer Woche.«
»Sie sind jetzt die siebte Nacht hier«, sagte Alice.
»Und wie lange seid ihr beide in den Käfigen?«
»Das ist unsere vierundzwanzigste Nacht.«
Ich holte tief Luft. »Echt?«
»Es stimmt«, sagte Erin.
»Meine Güte!«
»Wesley hat uns an dem Tag eingesperrt, an dem er hier angekommen ist.«
»Als er zum ersten Mal angekommen ist«, erklärte Alice.
»Er wusste von den Käfigen«, sagte Erin.
»Hat was darüber gelesen.«
»Genau. In einem alten National Geographic oder so. Und er hat Dad gefragt, ob sie noch da sind und ob er sie sehen kann.«
»Er wollte sie kaufen, falls sie noch gut in Schuss waren.«
Erins Hand tastete sich meinen Arm hinunter. Sie nahm meine Hand und drückte sie. »Dad und Mom haben ihm die Käfige gezeigt, und da hat Wesley plötzlich Mom gepackt
und ihr ein Rasiermesser an den Hals gehalten und Dad gezwungen, ihm die Schlüssel zu geben. Dann hat er die beiden in einen Käfig gesteckt und abgeschlossen. Alice und ich waren beim Schwimmen, und als wir zurückkamen, hat er uns auch in die Käfige eingeschlossen.«
»Wir hätten abhauen können«, sagte Alice.
»Richtig. Wäre nicht einmal schwer gewesen. Wesley war allein und hatte keine Pistole oder so was. Aber er hat gesagt, dass er Mom und Dad umbringen würde, wenn wir nicht taten, was er von uns wollte.«
»Und er hat gesagt, wir sollten in die Käfige gehen.«
»Aber er hat sie trotzdem umgebracht«, sagte Erin. »Nur eben nicht gleich.«
»Mom lebt vielleicht noch.« Alice klang so, als ob sie es selbst nicht so recht glaubte.
»Ach ja? Und wo ist sie dann?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte Alice.
Ich wusste, wo sie war, aber ich sagte nichts.
»Er hat Mom in einen Käfig gesperrt wie uns alle«, erklärte Erin mir. »Dad auch, aber den haben sie schon vor langer Zeit weggebracht. Aber Mom war viel länger da.«
»Bis wann?«, fragte ich.
»Bis vor ein paar Nächten.«
»Vor vier«, präzisierte Alice. »Die heutige mit eingeschlossen.«
Vor vier Nächten war ich den Bach hinaufgegangen, hatte unser Schlachtfeld abgesucht und auf dem Rückweg die Tote in der Lagune entdeckt.
»Ja«, sagte Erin. »Mom war … dran gewesen, drüben im Haus. Und auf dem Rückweg zum Käfig hat sie sich losgerissen und ist weggerannt. Vorher hat sie sich nie gewehrt, wahrscheinlich wegen uns. Wesley hat ihr mit schlimmen
Dingen gedroht für den Fall, dass sie abhaut. Aber vermutlich ist ihr irgendwann mal klar geworden, dass wir keine Chance haben, wenn sie nicht abhaut. Aber sie hat es nicht geschafft. Die beiden sind ihr hinterher. Und haben sie erwischt.«
»Das kannst du nicht wissen«, sagte Alice.
»Sie haben sie eingeholt, daran gibt es nichts zu rütteln.«
»Das haben sie gesagt …«
»Jetzt hör aber auf, Alice. Meinst du, sie hätten sich so aufgeführt, wenn sie Mom nicht erwischt hätten? Du weißt genau, was ich meine.«
Alice verstummte.
Ich überlegte mir, ob ich ihnen noch mehr Fragen stellen sollte. Um welche Tageszeit ihre Mutter sich losgerissen hatte, zum Beispiel. Ob sie sich an der Lagune auskannte. Wie weit die Lagune von hier entfernt war.
Aber ich musste sie das nicht fragen.
Die Tote, die ich in der Lagune gefunden hatte, musste ihre Mutter sein.
Und Matt, das war mir längst klar, war ihr Vater gewesen.
Wesley hatte diese beiden Kinder zu Waisen gemacht.
Es war nur eines seiner vieler Verbrechen, aber eines der schlimmsten.
»Jedenfalls sind wir alle an dem Tag, an dem Wesley kam, in diesen Käfigen gelandet«, fuhr Erin mit ihrer ursprünglichen Erzählung fort. »Und dann ist er noch ein paar Tage hier geblieben. Dad hat er nie angerührt, aber mit uns dreien hat er … seine Spielchen getrieben.«
»Er tut einem gerne weh«, murmelte Alice.
»Wesley hat uns einzeln aus unseren Käfigen geholt. Und dann mussten wir Sachen mit ihm machen.«
»Schlimme Sachen«, fügte Alice hinzu.
»Und wenn wir sie nicht so gemacht haben, wie er wollte, hat er eine andere von uns dafür büßen lassen. Wenn er wollte, dass ich … was machte … und ich es nicht tun wollte, dann hat er mich zurück in meinen Käfig gebracht und Mom aus ihrem rausgeholt. Er hat sie direkt vor uns ausgepeitscht, und dann musste sie es tun.«
Erins Hand, die immer noch die meine hielt, war heiß und
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