Die Insel - Roman
hast es ihm geglaubt?«
»Warum nicht?«
Ich konnte mir ungefähr eine halbe Million Gründe dafür vorstellen, warum man Wesley nicht glauben sollte. »Wenn es wirklich so war«, fragte ich, »warum ist er dann nicht zu uns an Land geschwommen? Er wusste doch, wo wir waren. Nein, er wollte uns glauben machen, er wäre mit dem Boot in die Luft geflogen.«
»Stimmt, das wollte er.«
»Wie meinst du das?«
»Er musste verschwinden, denn er hatte Angst, wir würden ihn für die Explosion verantwortlich machen. Und genau das war ja auch der Fall. Du hast meinen Vater schließlich gehört. Für ihn war es eindeutig Wesleys Schuld.«
»Deshalb hat Wesley uns vorgespielt, er wäre tot?«
»Genau. Wer weiß, was ihr ihm angetan hättet.«
»Das weiß nur Gott allein. Kann sein, dass ihn jemand einen Idioten genannt hätte. Wie schrecklich.«
»Du weißt ja gar nicht, was du da redest.«
»Hatte er vielleicht Angst, Andrew würde ihn kielholen? Mit der neunschwänzigen Katze auspeitschen? Über die Klinge springen lassen.«
»Wer weiß?«
»Unsinn. Niemand hätte ihm etwas angetan. Immerhin war es ja ein Unfall.«
»Du hast ja keine Ahnung, wie grausam Dad sein konnte. Richtig gemein. Wenn du nur die Hälfte von dem wüsstest, wozu er im Stande war … was er mir angetan hat … und auch Kimberly.« Sie schüttelte den Kopf.
Auf einmal interessierte es mich sehr, was sie erzählte.
»Was hat er euch denn angetan?«
»Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie unangenehm es ist, so gefesselt zu sein?« Sie hielt mir ihre Hände entgegen. »Kimberly hat den Strick viel zu fest angezogen.«
Bevor sie schlafen gegangen waren, hatte Kimberly Thelma für einen kurzen Besuch auf der Latrine losgebunden und sie danach wieder gefesselt.
»Du kannst das besser«, sagte Thelma. »Als du es gemacht hast, hat sich der Strick nicht so eingeschnitten. Das hat sie absichtlich getan, um mir wehzutun.«
»Das glaube ich nicht.«
»Warum siehst du es dir nicht selbst einmal an?«
Ich beugte mich hinüber zu ihr und überprüfte die Fesseln. Der Strick war tatsächlich so stramm, dass er sich tief in Thelmas Haut einschnitt.
»Könntest du sie mir nicht etwas lockerer machen? Bitte …«
»Ich weiß nicht. Kimberly hatte bestimmt einen Grund dafür …«
»Und ob sie einen hatte. Sie wollte mir wehtun. An so was geilt sie sich auf.«
»Meinst du?«
»Wenn du mir die Fesseln lockerst, erzähle ich dir alles, was du wissen willst.«
Natürlich fragte ich mich, was ihre Motive waren, aber es war nun einmal Tatsache, dass der Strick sich wirklich in ihr Fleisch schnitt.
»Okay, ich fessle dich neu«, sagte ich. »Aber versuch bloß keine fiesen Tricks.«
»Mach ich nicht. Versprochen.«
Ich legte die Axt außer Griffweite hinter mich und kroch auf meinen Knien so nahe an Thelma heran, dass ich
den Knoten lösen konnte. Als ich ihn geöffnet hatte, fing ich an, den Strick von ihren Handgelenken zu wickeln.
Auf einmal riss Thelma ihre Hände weg.
Und ich kniete da mit dem losen Strick in Händen.
Noch bevor ich etwas tun konnte, hatte sie die Arme hinter ihrem Rücken versteckt.
»Bitte, fessle mich nicht wieder«, flehte sie. »Ich tue auch bestimmt nichts. Lass mich ein wenig ausruhen. Ich kann es nicht ertragen , gefesselt zu sein. Nur ein paar Minuten, okay?«
»Nein, das darf ich nicht. Nun mach schon, du hast es mir versprochen.« Ich blickte hinüber zu den anderen, die Gott sei Dank noch immer schliefen. »Du bringst mich in große Schwierigkeiten.«
»Sie müssen doch nichts davon erfahren. Ich erzähle ihnen jedenfalls nichts davon.«
»Mist.« Ich ließ den Strick fallen, beugte mich auf den Knien nach vorn und packte Thelma an den Oberarmen. Sie waren dick, aber nicht schwammig. Ich packte fest zu und versuchte, sie nach vorn zu ziehen.
Thelma wehrte sich und sagte: »Wenn du nicht aufhörst, schreie ich.«
Ich ließ sie sofort los.
Es dauerte eine Weile, bis ich wieder zu Atem kam. Dann sagte ich: »Jetzt komm schon. Wenn jemand aufwacht und sieht, dass du nicht gefesselt bist …«
»Dann kriegst du mehr Schwierigkeiten als ich.«
»Wir kriegen beide Schwierigkeiten. Also gib mir deine Hände.«
»Ich mache dir einen Vorschlag.«
»Welchen?«, fragte ich, während ich den Strick vom Boden aufhob.
»Lass mich ein paar Minuten ohne Fesseln. Nur so lange, wie wir hier sitzen und reden, okay? Danach lasse ich mich wieder fesseln, das verspreche ich dir.«
»Was ist, wenn jemand aufwacht?
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