Die Inseln des Ruhms 3 - Die Magierin
für Magie. Als was bezeichnet Ihr es? Den religiösen Äther? Ein Wunder des Glaubens? Also, für mich klingt das ziemlich nach Magie!
Oh, seht mich nicht so an, als wärt Ihr jetzt vor den Kopf gestoßen, Syr-Ethnograph. Ich verachte Euren Gott nicht, und auch keinen anderen Gott. Tatsächlich fällt es mir leicht, an die Existenz einer Gottheit zu glauben, weil ich die Realität der Magie kennengelernt habe. Vergesst nicht, dass ich die ersten zweiundzwanzig Jahre meines Lebens durch Dunkelmagie verzaubert war. Als Morthreds Magie ein Ende hatte, waren Narben an jedem Knochen, jedem Organ, jedem Teil von mir. Nein, keine Narben, die man sehen könnte. Es handelt sich um Zeichen auf meiner Seele, auf meinem Wesen.
Ich hing kopfüber in den Wanten. Meine Fersen hatten sich in den Vierecken des Netzes verhakt, was mich davor bewahrt hatte, nach unten aufs Deck zu fallen. Ich war natürlich nackt. Und zum ersten Mal, seit ich als Küken in einer Mauernische des Palastes von Burg Cirkase zur Welt kam, besaß ich keine Federn.
Es war nicht viel Zeit vergangen. Die Reizend trieb gerade vom Dock weg, die Segel hingen immer noch schlaff herunter, während der Steuermann– Kapitän Kayed persönlich– zu den nackten Leuten auf dem Kai hinüberstarrte. Einige von ihnen rührten sich, andere stöhnten. Wieder andere bewegten sich gar nicht. Da war auch ein kleines Mädchen unter den Lebenden, das anscheinend unverletzt war. Es kauerte zwischen den Toten und Verletzten, einen Ausdruck reinsten Entsetzens im Gesicht.
Inzwischen befand sich das gesamte Schiff in einem Schockzustand.
Flamme stand ein Stück unterhalb von mir starr wie eine Statue; sie hatte die Illusion ganz vergessen, die daraufhin an den Rändern zu zerfasern begann. Ihre Hände umklammerten die Reling so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Die Art, wie sie die Schultern hielt, deutete auf heftige Gefühle hin, aber ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Ich wollte ihr etwas zurufen, ihr sagen, dass ich hier oben war. Dass ich noch lebte. Ich wollte sie bitten, mir zu helfen. Aber als ich rief, kam kein Geräusch heraus, und als ich mit den Flügeln schlug, stellte ich fest, dass ich keine besaß. Es war gut, dass sich meine Füße im Netz verhakt hatten, denn in diesem kurzen Augenblick voller Verwirrung versuchte ich tatsächlich zu fliegen.
Das Entsetzen angesichts der Erkenntnis, dass ich nicht fliegen konnte, traf mich mit der Wucht eines Fausthiebs mitten in die Brust. Ich hing kopfüber hoch über dem Deck und hatte keine Flügel. Ich versuchte, mit meinen Klauen irgendetwas zu greifen, aber natürlich hatte ich gar keine Klauen. Es war mir unmöglich, meine Füße um das Seil zu winden…
Immerhin wusste ich, was mit mir geschehen war. Immerhin hatte ich eine Vorahnung gehabt, dass es passieren würde. Aber was war mit diesen armen, gerade erst flügge gewordenen Jungvögeln? Mit den Kindern, zur Sturmhölle.
Hände, dachte ich, Hände. Ich habe jetzt Hände. Ich muss irgendetwas mit ihnen tun.
Ein einfacher Gedanke, und doch nur schwer umzusetzen. Es gelang mir einfach nicht, meinen Armen zu sagen, was sie tun sollten, ganz zu schweigen von meinen Händen oder Fingern. Sie flatterten wild herum und zuckten mal in die eine und mal in die andere Richtung. Die Gelenke an den Handschwingen eines Vogels bringen die Flugfedern dazu, sich zu beugen, aber sie krümmen sich nicht um etwas und halten Dinge wie die Seile der Takelage fest. Ich konzentrierte mich. Hände waren geeignet, um etwas festzuhalten, sich an etwas zu klammern. Und ich hatte Hände. Also… sollte ich wohl das Seil festhalten. Als ich mich endlich daran klammerte, und zwar richtig fest, schaffte ich es, mich in eine aufrechte Position hochzuhieven. Mit Hilfe meines Schnabels. Meiner Zähne. Ja, ich war verwirrt. Vollkommen verwirrt. Ich dachte immer noch die Gedanken eines Vogels, in mir war das Erlernte eines Vogels.
Flamme, die unter mir an Deck stand, riss sich jetzt zusammen und erneuerte die Illusion. Kapitän Kayed war nicht in der Lage, sich der Dunkelmagie zu widersetzen, und drehte das Steuerruder, so dass sich die Segel aufblähten und wir uns vom Kai lösten und auf das offene Meer hinausfuhren. Einige Seeleute waren inzwischen auf mich aufmerksam geworden, aber sie waren so sehr im Bann der Dunkelmagie, dass sie den Anblick eines nackten Mannes, der sich an die Takelage klammerte, einfach ignorierten. Ihr grundlegendes Desinteresse an allem, sogar ihrem
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