Die Inselvogtin
Aber ihr blieb nichts anderes übrig, als seinen Worten Folge zu leisten. Und sie überwand ihre Angst, fasste beherzt zu und redete bei jeder Wehe auf Jantje ein, das Kind voranzutreiben.
»Du machst das wunderbar!«, lobte der Weiße Knecht, und sein Lächeln vermochte es, den restlichen Argwohn gegen ihn verschwinden zu lassen. Und je länger sie dort an diesem Bett saßen, sich gegenseitig halfen und gemeinsam der Geburt entgegenfieberten, desto weniger schien die jüngste Vergangenheit noch eine Rolle zu spielen. Maikea erschrak fast über ihre Gefühle, wenn seine Hand die ihre berührte oder ihre Gesichter sich einander näherten. Sie wusste, sie gehörte zu ihm. Und er zu ihr.
»Ich kann nicht mehr!«, schrie Jantje auf, aber in diesem Moment geschah das Wunder, es glitt zwischen ihre Beine, wimmerte leise und süß. Es war ein Junge. Er war gesund. Die Zeit stand still.
Der Weiße Knecht erhob sich und ging zu der kleinen Dachluke, durch die der frühe Morgen in die kleine Stube zu schauen schien. Maikea konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, aber sie ahnte, dass er einen Moment allein sein wollte. Erst nachdem sie das Kind gewaschen und es seiner Mutter in den Arm gelegt hatte, trat sie neben ihn.
Sie wollte ihn fragen, was in ihm vorging, warum seine Augen so weit in die Ferne blickten, wo er mit seinen Gedanken war, jetzt, in diesem Augenblick. Aber dann begriff sie, er musste es von sich aus erzählen, wenn er bereit dazu war. Nach unendlich scheinenden Minuten griff er nach ihrer Hand, und sie ließ es zu.
»Maikea, ich wurde auf Juist geboren. Mein Name ist Tasso Nadeaus, und ich bin der Sohn von Geeschemöh. Das letzte Kind, dem ich vor heute Nacht auf die Welt geholfen habe, bist du gewesen. Damals, in der Nacht der großen Flut … «
Sie antwortete nicht, sondern schaute weiter nach draußen. Die aufgehende Sonne verdrängte die Morgenröte. Ein Schwalbenschwarm bildete am Himmel ein schwarzes Muster, es sah aus wie eine tanzende Wolke.
Tasso küsste sie. Und dann begann er, von sich zu erzählen, von einem kleinen Jungen, der nirgendwo dazugehörte, der die Angst überwinden musste, der vergessen wollte, woher er kam und wer er war. Und endlich begriff Maikea so vieles, was sie zuvor immer nur gefühlt hatte und nicht erklären konnte. Sie beide waren sich in vielem so ähnlich, darum hatte sie immer gespürt, dass sie mehr verband als nur die Zeit, die sie im Hause des Kartenmalers zusammen verbracht hatten. Ganz eng standen sie dort und beobachteten das Erwachen eines neuen Tages. Es war gut. Alles um sie herum schien sich verändert zu haben, die Sonne leuchtete heller, das Gras roch frischer, die Natur erwachte, und die Vögel begann zu singen.
Die letzten Stunden waren das Verwirrendste, was Maikea je widerfahren war. Aber sie war glücklich.
Der kleine Junge an Jantjes Brust war eingeschlafen. Mutter und Kind boten ein Bild des Friedens. Maikea seufzte. Und der Weiße Knecht zog sie leise hinter sich die Stufen hinab. »Wir sollten die beiden ruhen lassen. Gehen wir ein bisschen an die frische Morgenluft?«
Maikea lachte. Ihr schien es, als könne sie nie wieder aufhören zu lachen. Tasso küsste ihr Gesicht. »Ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst, solange wir unterwegs sind. Doch wenn meine Leute wiederkommen … «
»Ich weiß! Dann nenne ich dich wieder Weißer Knecht und befehle meinen Fingern, nicht ständig nach dir zu fassen.«
Sie folgten dem Weg Richtung Pewsum und hielten sich an den Händen wie verspielte Kinder.
»Also erkläre mir, was geschehen ist in jener Nacht. Warum haben dich alle für tot gehalten?«
»Diese Flutwelle ist damals über den Hammrich gerollt und hat alle, die sich dort aufhielten, mit sich gerissen. Meine Mutter wusste, ich war unterwegs, um deinem Vater von der Geburt zu berichten. Sie musste davon ausgehen, dass ich unter den Opfern war.«
»Und warum hast du sie in diesem Glauben gelassen? Geeschemöh hat furchtbar um dich getrauert, Tasso. Einmal bin ich mit ihr über den Hammrich gelaufen zu der Stelle, an der euer Haus gestanden hat. Das war Jahre nach der Flut, doch sie hat ihre Tränen nicht zurückhalten können.«
Er schwieg eine Weile. Die Worte schienen ihm nahezugehen. »Kennst du das Gefühl, wenn man keine andere Wahl hat, als einen bestimmten Weg einzuschlagen? Auch wenn es noch so unvernünftig ist?« Tasso blickte sie von der Seite an. »Natürlich kennst du es. Sonst würdest du nicht Inselvogtin werden
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