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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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dagegen zu unternehmen, als Wilhelmine, das Kind auf dem Arm, beherzt in den Kleiderschrank fasste. Drei Kleider bekam sie zu packen und verließ ohne Abschiedsgruß mit erhobenem Haupt das Gemach.
    Der Sekretarius stand mit seinen Schreibutensilien und weit geöffnetem Mund neben der Tür.
    »Ich verlasse mich auf Eure Diskretion «, knurrte Weert und steckte ihm die Brosche mit dem rot glänzenden Stein in die Tasche seines Mantels.
    Der junge Mann nickte beeindruckt. Dann zückte er wieder seine Feder hervor und lauschte den Angaben, die ihm diktiert wurden.
    Es kostete Weert sehr viel Kraft und Konzentration, weiterzumachen. Denn immer wieder schweiften seine Gedanken ab.
    Wenn es stimmte, was Wilhelmine sagte, musste er den Jungen finden. Und diesen Mann, der angeblich den Aufenthaltsort des Knaben kannte, bevor dieser die Wahrheit ans Licht brachte. Der Sohn des Fürsten musste getötet werden! Dann wäre das Geschlecht der Cirksena endgültig ausgelöscht.
    Weerts neue Macht käme nie wieder in Gefahr.

9
    W enn sich die Natur den Normen widersetzte, war sie besonders wütend. Wenn ein Sturm beschloss, gegen die Küste zu drücken, obwohl es erst Ende September war, dann zeigte er sich meistens gewaltig.
    Am Nachmittag des vorigen Tages hatte sich das Wetter innerhalb weniger Stunden von spätsommerlich warm in kalt, stürmisch und regnerisch gewandelt. Seitdem hatte sich auch der Wind aus Nordwest zu einem handfesten Orkan gesteigert und ließ die Wellen hoch aufpeitschen. Und über allem hing der Himmel als grauschwarze Wolkenmasse.
    Es war bereits finster, obwohl es noch ein paar Stunden dauerte, bis die eigentliche Nacht hereinbrechen sollte. Solang Ebbe herrschte, bestand keine Gefahr für die Insel und das Leben ihrer Bewohner. Aber bald, sehr bald, würde das Wasser, dem unendlichen Rhythmus folgend, wiederkommen. Spätestens dann offenbarte die Natur ihre unbarmherzige Seite.
    Tasso wusste, Maikea würde sich heute dennoch weder in der Kirche noch im Haus aufhalten. Sie würde am Strand sein, wild entschlossen, sich diesem Sturm zu stellen. Er wollte sie sehen, wollte heute an ihrer Seite stehen. Auch wenn sie ihn abermals abweisen sollte, so wie sie es in den letzten Wochen immer wieder getan hatte. Zu Recht, das war ihm klar.
    Sie konnte und wollte ihm weder sein jahrelanges Verschwinden noch sein plötzliches Auftauchen an ihrem Hochzeitstag verzeihen. Zwar hatte sie irgendwann akzeptiert, dass er sich nicht von der Insel verweisen lassen würde, und ihm schließlich sogar erlaubt, in ihrem Elternhaus zu wohnen, das seit ihrem Umzug zu Geert leer stand. Aber ansonsten ging sie ihm aus dem Weg. Das Geheimnis seiner Herkunft verriet sie nicht.
    Keiner der Insulaner hatte Tasso als Geeschemöhs Sohn erkannt, vielmehr verehrten ihn alle als den Weißen Knecht. Und da man auf Juist um Maikeas Verbindung mit den Rebellen wusste, wunderte sich niemand, dass sie diesem seltsamen und ungeladenen Hochzeitsgast ein Dach über dem Kopf gewährte. Doch dies war auch ihr einziges Entgegenkommen.
    Maikea sprach nicht mit ihm, wenn er zum Arbeiten am Strand erschien. Sie ignorierte ihn, wenn er mit den anderen Insulanern die Pfähle nach ihren Anweisungen schleppte und in den Strand rammte. Und sie schimpfte nicht mit ihm, wie sie es mit den anderen Männern zu tun pflegte. Denn noch immer waren die Wellenbrecher nicht zu ihrer Zufriedenheit vollendet. Die Pfähle hatten sich kaum festsetzen können, die Gezeitenströme ihre Kräfte noch nicht daran ausprobiert und daher auch kaum Sand und Muschelkalk dort abgelegt. Doch Tasso ahnte, dass Maikea den verfrühten Orkan wahrscheinlich als Herausforderung auffasste. Und die musste sie annehmen, ob sie wollte oder nicht.
    Er zog ein warmes Wollhemd an und trat vor die Tür. Salzige Nässe klatschte in sein Gesicht, als er zum Strand lief. Es ist nicht so bitterkalt und dunkel wie damals, dachte er, aber ich bin auch kein kleiner Junge mehr.
    Trotzdem erinnerte ihn dieser Moment auf grausame Weise an die Weihnachtsflut, in der er Maikeas Geburt beigewohnt hatte – und wenig später dem Sterben ihres Vaters. Aber Tasso wollte nicht daran denken. Nein! Denn es gab ein Gefühl, das ihn mit einem Mal einzuholen schien, als wäre es ihm jahrelang auf den Fersen gewesen und habe nur darauf gewartet, ihn jetzt und hier hinterrücks zu überfallen. Es war die Angst.
    Denn dies war mehr als nur eine Sturmnacht, das wusste Tasso.
    Dies war eine Schicksalsnacht.
    Er stieg auf die

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