Die Inselvogtin
Dünen und spähte über den Strand. Sandkörner wehten in seine Augen, und der peitschende Regen lief ihm in den Nacken. Immer wieder lugte der Mond hinter den dunklen Wolken hervor und ermöglichte Tasso für kurze Augenblicke den Blick auf das Chaos, das vor ihm lag. Die Wellen, die sich schon weit hinten auf dem Meer zum Angriff mobilisierten, zeichneten unruhige, grauweiße Linien auf das Wasser. Vom Kirchturm her hörte er die kleine Glocke läuten: Sturmwarnung. Nun hieß es an Gott glauben, die Sachen und das Leben in Sicherheit bringen – oder kämpfen. So wie Maikea es tat.
Am östlichen Ende des Hammrichs konnte Tasso ihre Gestalt erkennen. Sie war allein und lief schwer beladen vom Holzlager in den Randdünen zu den Wellenbrechern. Warum war sie so verbissen? Was hatte diese Frau so hart werden lassen, dass sie mutterseelenallein dort dem Meer entgegentrat, das heute ein so furchtbarer Gegner war. Was wäre anders geworden, wenn er nur damals seinen Gefühlen gefolgt und bei ihr geblieben wäre …?
Tasso rannte die Düne hinab und rief gegen den Wind:»Maikea, es ist zu spät, jetzt noch etwas zu befestigen. Was wir bislang nicht geschafft haben, wirst du heute nicht mehr vollenden können.«
Entweder hörte sie ihn nicht, oder sie blieb auch in diesem Moment ihrem trotzigen Stolz treu. Er wusste, sie würde sich ohnehin von niemandem aufhalten lassen. Denn sie wollte sehen, wie die tosende Brandung den Pfählen begegnete, ob sie durch das Holz abgeschwächt wurde und als harmlose Gischt anlandete. Oder ob es sich umgekehrt verhielt und die Wellen als Ganzes über die Holzwälle ritten und diese zerstörten. Es war ein Kampf, ja, das war es. Meer gegen Mensch, Sturm gegen Verstand. Und diesen Kampf konnte sie nicht wie die anderen im Kirchenschiff beim Gebet austragen. Nicht Gott war für die Rettung heute Nacht verantwortlich, sondern sie, Maikea.
Tasso rannte zu ihr. Ihr roter Rock war durchnässt, ihr blondes Haar klebte auf der Stirn, während sie versuchte, die Pfähle mit Zwischenkeilen zu stabilisieren. Aber jede Welle warf das Holz wieder zurück. Er zögerte kurz. Dann näherte er sich und griff nach einer Leiste, die nach außen gedrückt worden war. Für den Bruchteil eines Augenblickes berührten seine Hände die ihren.
»Was willst du?«, herrschte sie ihn an und nutzte die Gelegenheit, ein raues Seil um die Bretter zu winden.
»Dir helfen!«
Maikea zog den Knoten fest, dann lief sie an ihm vorbei zu einem Holzhaufen, den sie einige Ruten weiter am Strand aufgetürmt hatte. Gezielt griff sie nach den passenden Balken, sie durften nicht zu lang und nicht zu dick sein. Viel würde das Ganze ohnehin nicht bringen, aber es war alles, was sie auf die Schnelle tun konnte.
Tasso folgte ihr, doch sie sorgte dafür, dass stets zehn Schritte zwischen ihnen lagen. Über ihren Augen schwoll eine Ader an, und Tasso erinnerte sich an den Inselvogt, auf dessen Stirn sich damals ebenfalls das wütende Temperament der Boyungas abgezeichnet hatte. Er hatte einiges an seine Tochter vererbt, doch sie war ihm – ohne es selbst zu wissen – inzwischen um so vieles überlegen. Wissen, Kraft und Durchhaltevermögen. Täglich trieb sie die Insulaner dazu an, Stämme für den Sandfang zu befestigen. Und wenn gegen Abend alle erschöpft waren, dann stand sie noch immer am Strand, mit nassen Händen und von oben bis unten versandet. Sie wäre eine gute Inselvogtin, das wusste Tasso, das wusste jeder hier. Kein Mann hätte dieses Bauwerk so planen und umsetzen können.
»Hier, nimm das!«, herrschte sie ihn im unverwechselbaren Befehlston an und legte ihm drei große Balken in die Arme, sodass er beinahe in die Knie gegangen wäre. »Bring es zur letzten Reihe. Wenn wir zügig weitermachen, sind die Buhnen hoffentlich stabil genug.«
»Die was?«, fragte er nach.
»Die Buhnen. Ich habe mich entschlossen, diese Bauten so zu nennen. Und du wirst sehen, sie erfüllen ihren Zweck. In hundert Jahren findet man sie überall an der Küste.« Maikea nahm selbst zwei schmalere Hölzer und lief zurück ins Wasser. Aus ihrer Manteltasche holte sie ein weiteres Seil hervor und begann, die weniger sicher stehenden Pfähle zusammenzubinden.
Tasso gehorchte. Er legte die Pfähle an die Wasserkante und lief erneut zum Holzstapel. Sie musste ihm nicht erklären, was er zu tun hatte. Er war in den Wochen seit seiner Ankunft jeden Tag hier gewesen, hatte geschuftet wie kaum ein anderer, hatte sich die Pläne angeschaut und
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