Die Inselvogtin
ein aufgeschlossener Junge, der seine Freiheit liebte. Oft hatte Maikea überlegt, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn Jantje überlebt und ihn am Auricher Hof erzogen hätte. Was wäre aus ihm geworden, eingezwängt vom Hofzeremoniell, abgeschirmt vom wahren Leben, von Abenteuern und den Wundern der Natur? Und mit einem Mal wurde ihr klar, um was es ging.
Tasso war gekommen, um Jan zu holen. Er war der eheliche Sohn des ostfriesischen Fürsten. Und wenn Carl Edzard gestorben war …
»Nein «, flüsterte sie. Es kam ihr vor, als öffnete sich der Sand zu ihren Füßen, als würde er zu einem Trichter, der sie hinab zog in eine andere Welt. Eine Welt, die sie vergangen geglaubt hatte. Ihr schwindelte.
Geert fing sie auf. »Was ist los, Maikea?«
Sie antwortete nicht. Erst, als Tasso direkt vor ihr stand, schaffte sie es, ein paar Wörter über die Lippen zu bekommen. »Was willst du?«
»Wir müssen unter vier Augen sprechen. Gehen wir in dein Haus?«
Die Hochzeitsgesellschaft folgte ihnen mit unergründlichen Blicken. Alle wussten, dass Maikea auf dem Festland Kontakt zum Weißen Knecht gehabt hatte, genau wie Eyke und die Männer. Doch warum sie nun so seltsam reagierte, konnte niemand nachvollziehen.
Als Maikea die Tür hinter sich schloss, war es, als hätte sich die Zeit für einen Moment davongeschlichen. Es nahm ihr den Atem. Und den Mut, ihm in die Augen zu sehen.
»Was hast du hier zu suchen?«, fragte sie schließlich.
»Ich bin gekommen, weil Carl Edzard vor einigen Tagen verstorben ist.«
»Das weiß ich bereits.«
»Ich habe ihm vor seinem Tod noch sagen können, dass sein Sohn am Leben ist.«
Also doch, dachte Maikea, und alles in ihr bäumte sich auf. »Willst du ihn mir wegnehmen? Auf einmal, von einem Tag auf den anderen?«
»Wir können nicht länger warten, Maikea «, kam Tassos jämmerliche Erklärung. »Je länger wir zögern, desto schwieriger wird es, Jan als neuen Fürsten durchzusetzen. Und er scheint mir ein großartiger Junge zu sein … «
»Du kennst ihn doch überhaupt nicht. Tauchst hier auf, nach all den Jahren, wirfst einen Blick auf das Kind und behauptest, er wäre großartig. Woher kennst du überhaupt seinen Namen?«
Zerknirscht blickte Tasso zu Boden. »Ich habe Eyke oft getroffen, wenn er auf dem Festland war. Er hat mir erzählt, dass du eine gute Mutter bist, die … «
»Mit Eyke hast du dich getroffen? Aber mich ließest du im Glauben, dass du in der Mühle verbrannt bist!«
»Es wäre zu gefährlich gewesen, dich einzuweihen!«
»Und jetzt soll es auf einmal ungefährlich sein? Der Fürst ist tot. Ermordet, wie die Gerüchte verlauten, die bis zur Insel vordringen. Die Preußen sitzen schon so gut wie auf dem Thron … Und in einer solchen Situation willst du dieses Kind präsentieren?« Sie schnaubte verächtlich. »Niemals, Tasso, niemals würde ich das zulassen!«
»Hör zu, es ist Jans Bestimmung, und das weißt du!«
Maikea drehte sich abrupt weg, schaute aus dem Fenster, von dem aus man auf die Festwiese blicken konnte. Die Musiker hatten die Instrumente zur Seite gelegt. Niemand rührte seinen Teller oder Becher an. Der ungebetene Hochzeitsgast hatte die Feier mit einem Schlag beendet. Am Hang einer Düne entdeckte sie Jan, wie er mit einem Stock im Sand herumstocherte. Die Enttäuschung über das abgebrochene Fest stand ihm ins Gesicht geschrieben. Geert ging zu ihm, schien ihn trösten zu wollen. Der Anblick versetzte Maikea einen schmerzhaften Stich ins Herz. Ihr Hals war wie zugeschnürt.
»Du hast doch keine Ahnung von unserem Leben hier. Es gibt so viel Arbeit. Manchmal ärgere ich mich über die sturen Insulaner, die noch immer nicht verstehen, wie ich ihre Heimat schützen will. Aber sobald wir die erste Sturmflut heil überstehen, wird es anders sein … Ich hatte mich abgefunden mit dem Tod meiner besten Freundin, sogar mit deinem Tod, Tasso. Heute habe ich geheiratet. Alles war so friedlich … Warum willst du das jetzt zerstören?«
»Das will ich nicht. Aber es ist der Wunsch des Fürsten gewesen, dass sein Sohn nach seinem Tod nach Aurich kommen soll. Dort sind Urkunden hinterlegt, die beweisen, dass er … «
Wieder unterbrach sie ihn. »Seine Mutter hat sich ein anderes Leben für ihn gewünscht. Sie wollte die Freiheit für Jan, das waren ihre letzten Worte.«
»Maikea, bitte, es ist doch … «
Das war zu viel. Wie Essig kroch die Wut in ihr hoch. »Nein!«, schrie sie. »Du hast immer nur deinen Kampf geführt, Tasso.
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