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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Kindbett mit einem Neugeborenen hinterlassen, die dazu verdammt waren, mit einer alten Hexe in einer windigen Kate zu hausen.
    Weert hatte begonnen, seine Heimatinsel für ihre Kargheit, ihre Armut und vor allem für ihre Verletzlichkeit zu hassen. Das Meer fraß sich immer weiter in den Sand. Und es war nur eine Frage der Zeit, wann die Wellen alles mit sich reißen würden. Da konnte der Pastor noch so viele Zweige in die Dünen stecken, die Nordsee würde immer die Siegerin bleiben.
    Deswegen wollte Weert auch weg. Die Schule hatte er eigentlich schon abgeschlossen, immerhin war er fast fünfzehn. Und hier auf dem Festland erhoffte er sich eine gute Arbeit. Eine Arbeit, bei der man sich nicht die Finger schmutzig machen musste und trotzdem genug Gulden in der Tasche hatte.
    »Voraus könnt ihr eure neue Heimatstadt sehen «, rief plötzlich der Kutscher. Weert hob den Kopf und blinzelte in die Richtung, in die der Kutscher gezeigt hatte. Auch Maikea neben ihm erwachte jetzt. Sie sah verschlafen aus und schien nicht so recht zu wissen, wo sie sich befand und was gerade vor sich ging.
    Er stieß sie mit dem Fuß an, etwas gröber als nötig.»Was immer der Idiot da vorne erzählt, zu deiner Heimatstadt wirst du das hier niemals machen «, raunte er ihr zu, sodass es niemand sonst hören konnte.
    »Das hatte ich auch nicht vor «, zischte sie zurück.»Sobald ich alt genug bin, fahre ich zurück nach Juist und werde Inselvogtin.«
    Weert lachte sie aus. Das tat gut, denn mit dem Lachen ließ er auch die Anspannung ein wenig los, die sich in ihm aufgebaut hatte. Noch einmal trat er nach ihrem Schienbein, doch diesmal war sie schneller, zog das Knie zur Seite, sodass sein Fuß das Ziel verfehlte und gegen einen Metallbeschlag knallte. Es tat höllisch weh, doch Weert wollte sich nichts anmerken lassen. Maikea tat so, als hätte sie nichts von alledem bemerkt. Wie sehr er sie verabscheute!
    Die Frau auf dem Kutschbock drehte sich nun zu ihnen um, und Weert verzichtete auf einen weiteren Tritt in Maikeas Richtung.
    Er schaute auf die Ansammlung roter und weißer Häuser, um die sich eine Mauer schnürte wie ein Gürtel. Zwei schlanke, hohe Türme und ein dicker kleinerer hoben sich gegen den Nachthimmel ab. An der nördlichen Seite von Esens stand etwas, das wie ein riesiger Vogel aus Holz aussah. Gewaltige Schwingen schlugen im gleichmäßigen Takt, ohne dass sie davonflogen.
    »Die Peldemühle «, erklärte der Kutscher, der seinen Blick beobachtet haben musste.»Der Wind treibt die Flügel an und bringt ein Gewinde zum Drehen. Und unten, zwischen zwei Mühlsteinen, wird das Korn gemahlen. So etwas gibt es auf eurer winzigen Insel nicht, was?«
    Weert und Maikea schwiegen beide.
    »Und dort, das große Haus in der Nähe der Kirche, das ist das Waisenhaus. Dahin bringe ich euch jetzt. Dort werdet ihr ab heute residieren.«
    Er lachte und trieb die müden Pferde weiter an.

4
    N iemals hatte Maikea ein solches Haus aus der Nähe gesehen. Es erschien ihr wie ein Palast, ein Waisenhaus hatte sie sich dürftiger vorgestellt. Konnte es sein, dass die ärmsten Kinder auf dem Festland ein besseres Dach über dem Kopf hatten als die wohlhabendsten Inselbewohner? Gerade, hohe Wände aus rotem Stein, so hoch, dass ihr schwindelig wurde, wenn sie zum dreieckigen Giebel aufblickte, in den ein Steinmetz ein kleines Kunstwerk gemeißelt hatte: eine Sonne und zwei Vögel mit gewaltigen Flügeln. Oder waren es Engel? Links und rechts neben der Tür waren lange Fenster in die Mauer eingelassen, fünf an jeder Seite, und genau darüber gab es noch einmal welche, so groß und so breit wie im Erdgeschoss.
    Direkt über dem Eingang konnte Maikea trotz der Dunkelheit eine Inschrift entziffern: Wie teuer ist deine Güte, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben. Die Worte beruhigten sie. Maikea atmete tief durch, dann nahm sie ihr Bündel und stieg hinter Weert aus der Kutsche. Die Frau, die sie seit ihrer Ankunft auf dem Festland begleitete, ohne ein Wort gesprochen zu haben, reichte ihr dabei die Hand. Als der Kutscher sich mit einem kurzen Gruß verabschiedete und davonfuhr, mochte Maikea die Hand der stummen Frau nicht loslassen. Sie war warm und weich, und das tat in diesem Moment sehr gut.
    Ein dicker Mann öffnete die Tür. Er hatte kaum Haare auf dem Kopf, dafür waren seine Wangen und sein Kinn mit einem Bart bedeckt, der bis zur Brust reichte. Seine Stirn war so zerfurcht wie der Sand an der Wasserkante

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