Die Inselvogtin
sie noch lebten.
Maikea holte ihr Nachthemd aus dem Beutel und schlüpfte hinein. Im Stoff vermochte sie noch den Geruch ihrer Kate wahrzunehmen. Das warme, rußige Feuer im Kamin und die salzigen Aromen der Wattkräuter, die dort zum Trocknen an der Decke hingen. Ein bisschen erschnupperte sie auch die Daunen, die in ihrem Kissen gesteckt hatten. Es roch wunderbar.
Maikea löste ihre Zöpfe, fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Haare und nahm schließlich den Kamm zu Hilfe, den ihr Geesche Nadeaus vermacht hatte. Er war aus Perlmutt, glatt und kühl, und wäre es hell gewesen im Waschraum, dann hätte man die Farben des Regenbogens erkennen können, die auf dem Weiß schimmerten. Früher, als ihre Mutter noch kräftig genug gewesen war, hatte sie ihr immer die Haare gekämmt und geflochten. Das Kämmen hatte sich stets wie sanftes Streicheln angefühlt. Nun versuchte Maikea, sich selbst damit ein Gefühl der Zärtlichkeit zu geben, aber die Haare waren verknotet, und der Kamm verhakte, dass es schmerzte. Maikea wollte fort von hier.
In dem Moment kam Helene herein und streckte die Hand nach ihr aus. Ihre hochgezogenen Mundwinkel zitterten unsicher.»Es wird schon werden «, sagte sie, und Maikea erschrak, als sie erstmals ihre Stimme vernahm.
Der Schlafsaal war das größte Zimmer, in dem Maikea sich je befanden hatte. Durch die hohen Fenster schien der Mond herein und ließ die Sprossenscheiben gitterartige Schatten werfen, die sich wie Fischernetze über die Schlafstätten legten. Es war vollkommen still hier, und einen Moment hatte Maikea das Gefühl, ganz allein im Raum zu sein.
Ihr Bett befand sich in der Mitte des Saals und war nicht mehr als eine mit Leinenstoff bespannte Pritsche aus Stroh, hart und kratzig. Zudem lag da schon jemand auf der schmalen Liegefläche. Maikea konnte schemenhaft zwei Zöpfe erkennen. Sie würde ihre Arme und Beine eng anwinkeln müssen, damit beide Platz fanden. Die Bettnachbarin war ein wenig kleiner als sie und schien sich von ihrer Ankunft nicht stören zu lassen. Ihr Atem ging gleichmäßig und tief, als würde sie schlafen.
Helene brachte eine dünne Decke, die sie über Maikeas Beine legte. Kurz strich sie ihr mit der Hand über den Scheitel und schlich dann eilig davon.
Maikea drehte sich auf die Seite. Sie hörte ihr Herz klopfen, ganz laut, aber es übertönte nicht die Schlafgeräusche der anderen Kinder, die sie nun vernahm.
»Wie heißt du?«, fragte plötzlich eine Stimme direkt neben ihr. Es war ein fast unhörbares Flüstern, aber Maikea zuckte zusammen, als sei es ein Donnergrollen gewesen.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin Jantje. Ich wollte doch nur wissen … « Ein Ächzen aus dem Bett links ließ die Bettnachbarin verstummen.
Maikea wartete eine Weile, doch als alles ruhig blieb, drehte sie sich zu Jantje.
»Ich bin Maikea.«
»Woher kommst du?«
»Von Juist.«
»Wirklich von der Insel?« Ihre Bettnachbarin schien erstaunt zu sein und richtete sich ein wenig auf.»Da wohnen doch die Wilden!«
»Unsinn!« Maikea musste kichern.
»Doch, die essen da rohen Fisch und Vogeleier!«
Jetzt wurde aus dem Kichern ein Lachen.»Wer behauptet das?«
Zwei Betten weiter machte jemand»Psst!«. Maikea versuchte, sich zurückzuhalten.
»Die Rauschweiler. Unsere Lehrerin in der Weberei.«
»Weberei?«
»Ja, da arbeiten wir nach der Schule. Wir machen Trachtenstoffe. Die verkauft der Pastor dann.« Jantje seufzte.»Es ist sehr anstrengend.«
Maikea hatte nie besonderes Talent bei der Handarbeit gezeigt. Wenn sie nähen sollte, stach sie sich stets den Finger blutig. Und am Spinnrad hatte sie mehrmals den Faden so unlösbar verknotet, dass die Frauen sie irgendwann gar nicht mehr an das Gerät ließen.
»Müssen die Jungen auch am Webstuhl hocken?«, fragte Maikea.
»Denen geht es noch viel schlechter.«
»Weshalb?«
»Sie müssen im Garten arbeiten. Rüben und Kohl pflanzen. Die Hühner füttern. Und manchmal auch am Deich bauen, wenn der ausgebessert werden muss. Und zwar bei jedem Wetter!«
Maikea fand im Gegensatz zu Jantje, dass sich diese Tätigkeit sehr spannend anhörte. Warum nur war sie kein Junge?
»Die Rauschweiler hat gesagt, die Wilden auf der Insel können nicht lesen und schreiben.«
»Können wir wohl! Ich hab sogar schon das Neue Testament gelesen!«
»Ganz?«
»Na ja, bis auf die Offenbarung. Die war mir zu unheimlich.«
Jantje legte sich wieder ins Kissen zurück.»Da bin ich ja froh.«
»Froh,
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