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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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das ganze Gefährt mehr als unsanft auf die Straße schlagen. Weert spürte, wie ihm Säure und Speichel in den Mund stiegen. Er beugte sich zur Seite und spuckte aus. Doch gleich darauf kroch wieder übler Brei zwischen seine Zähne, und er erbrach sich erneut. Wie lange musste er noch durchhalten?
    Die magere Frau, die ihn und Maikea am Hafen abgeholt hatte, drehte sich missmutig zu ihm um. Sie schien arm zu sein, denn unter ihrem abgewetzten Kleid zeichnete sich ein knochiger Körper ab. Wie alt sie war, konnte Weert nicht schätzen, vielleicht achtzehn, vielleicht auch schon sechsundzwanzig. Wortlos hatte sie neben dem Kutscher Platz genommen, während Weert und Maikea hinten auf der schmalen Holzbank durchgerüttelt wurden. Maikea hatte sich in eine Ecke gekauert, ihren Kopf auf das Reisebündel gelegt und die Augen geschlossen. Wie konnte sie bei diesem Geschaukel schlafen? Weert hatte es versucht, denn er war zugegebenermaßen ebenfalls sehr müde. Aber sobald seine Augen sich nicht mehr am Horizont festhalten konnten, wurde ihm schwindelig. Also war er gezwungen, wach zu bleiben und dem Klappern der Pferdehufe zu lauschen. Er hatte keine Ahnung, wie weit sie noch vom Ziel entfernt waren, so weit der Blick reichte, sah man meist nur Wiesen und Gräben. Nur selten passierten sie einsame Höfe oder diese knorrigen Bäume, die durch den stetigen Westwind ganz krumm geworden waren. In der Dämmerung, die bereits eingesetzt hatte, sahen sie gespenstisch aus. Windflüchter nannte man sie, hatte der Kutscher erzählt. Im Gegensatz zu dem stummen Weib, das wohl zum Kinderheimpersonal gehörte, war der Pferdetreiber ein redseliger Mensch.
    Während der Fahrt erklärte er ungefragt, was es links und rechts zu sehen gab. Aber die Wasserschlösser, Burgen oder Klöster interessierten Weert einen Dreck. Er war so verdammt müde und wollte nur endlich ankommen.
    Weert freute sich auf das Leben auf dem Festland. Alles war besser als dieses ärmliche Dasein auf Juist, wo ihm alte Weiber Tag für Tag denselben Fraß vorsetzten und er dafür auch noch etwas tun sollte. Es war unter seiner Würde, so zu leben, das hatte Weert Switterts immer tief in seinem Innern gewusst.
    Besonders die eiskalten Sturmnächte von Oktober bis März machten ihm das Leben schwer und brachten ungute Erinnerungen mit sich. Dagegen konnte Weert sich nicht wehren. Immer wieder hatte seine Mutter ihm von der Sturmnacht erzählt, in der sein Vater und die drei Geschwister von einer gewaltigen Welle davongerissen worden waren. Ein Bild hatte sich tief in sein Inneres eingegraben, ein Spukbild: Ein dicker Mann, die Augen weit aufgerissenen und das Gesicht mit Sand und Muschelschalen bedeckt, lag mit einem – und das war das Schrecklichste – Holzpfahl im Leib vor ihm, eine zersplitterte Schiffsplanke, die aus seinem Bauch herausragte und auch in seinem Rücken ein klaffendes Loch hinterlassen hatte. Der Leichnam konnte nur in Seitenlage zur ewigen Ruhe gebettet werden, eingerahmt von zwei bleichen, aufgedunsenen Mädchenleibern und einem Jungenkörper ohne Beine.
    Weert hatte noch mit niemandem über diese Erinnerung gesprochen. Alle dachten, er sei mit seinen damals drei Jahren zu klein gewesen, um sich an die Bergung der Ertrunkenen zu erinnern, aber sie irrten sich. Er hörte noch immer das Schreien seiner Mutter, als man den Sand über die Toten schaufelte. Er hatte ihre Hand gehalten und sich die Heulerei verboten. Und dabei war es bis heute geblieben.
    Selbst als seine Mutter vor zwei Jahren gestorben war, hatte sich keine Träne auf seinem Gesicht gezeigt. Er war weiter zur Schule gegangen und war von den Nachbarfamilien versorgt worden. Viele Insulaner sagten, er würde seinem Vater immer ähnlicher, in Statur und Wesen. Das machte ihn stolz, immerhin war sein Vater zu Lebzeiten der reichste Bauer der Insel gewesen. Weert nahm sich fest vor, es irgendwann mindestens ebenso weit zu bringen. Er konnte zupacken, er war nicht dumm, und das Erbe seines Vaters würde ihm ein gutes Leben als Waisenkind auf Juist ermöglichen. Da mochte Maikea noch so schlecht über seine Familie reden und das Märchen verbreiten, sein Vater habe falsche Leuchtfeuer gesetzt und sei ein Strandpirat gewesen. Er glaubte es nicht. Und selbst wenn sein Vater gegen Gesetz und Moral verstoßen haben sollte, er hatte damit immerhin für Weert und seine Mutter gesorgt. Der Inselvogt, dem Maikea immer so gern einen Heiligenschein aufsetzte, hatte hingegen eine ausgelaugte Frau im

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