Die Inselvogtin
zwar nie seine neue Heimat werden, aber unwohl fühlte er sich hier nicht. Esens war keine reiche, aber auch keine wirklich arme Stadt. Dass man ihr das Münzrecht verliehen hatte und innerhalb der Stadtmauern die fürstlichen Gulden, Groschen und Mariengroschen geprägt wurden, förderte den Handel. Die Nähe zum Meer war ein weiterer Vorteil, auch wenn der nächstgelegene Hafen es bei weitem nicht mit denen in Emden oder Norden aufnehmen konnte. Doch es gab genügend Obst und Getreide, Tuch und Leder, Fleisch und Fisch. Natürlich konnten auch hier die Ärmsten nicht mit gefüllter Börse auf den Markt gehen und kaufen, wie es ihnen beliebte. Aber für die Witwen und Bettler standen Armenhäuser zur Verfügung, und die Waisen waren in einer eigenen Einrichtung untergebracht.
Der Weiße Knecht seufzte. Fast war es schade, dass er am heutigen Tag die Stadt würde verlassen müssen. Vielleicht nur für ein paar Wochen, wenn alles wie geplant lief. Doch wenn sein Vorhaben missglückte, wäre dies das letzte Abendläuten von St. Magnus, das seine Ohren zu hören bekämen.
Die Sonne stand schon recht tief, und nachdem sie sich den ganzen Tag hinter grauen Herbstwolken versteckt hatte, brach sie nun durch eine Lücke und blendete ihn. Er musste seinen Arm vor das Gesicht heben.
Um nicht erkannt zu werden, hatte er sich einen dunkelgrünen Umhang über die Schultern gelegt. Erst wenn die Zeit gekommen war, wollte er ihn abwerfen und den Herrschaften zeigen, mit wem sie es zu tun hatten.
Er wurde unruhig. Wo blieb sein Mädchen nur? Sie war eine zuverlässige Person, und ihre Arbeit verlief nach strengen Zeitregeln, was die Planung ihrer Treffen bislang stets begünstigt hatte. Bisher hatte er sich auf sie verlassen können.
Natürlich wurde sie hauptsächlich von der Sehnsucht getrieben, und meistens landeten sie beide recht schnell in irgendeinem abgelegenen Schuppen im Heu. Der Anlass des heutigen Treffens war jedoch ein anderer, das wusste sie. Ob sie sich deshalb verspätete? Oder hatte sie es gar vergessen? Immerhin hatten sie sich ein paar Tage nicht gesehen. Das wäre zu gefährlich gewesen.
So gern er sie mochte, manchmal zweifelte der Weiße Knecht an ihrer Verschwiegenheit. Sie war eben eine Frau. Eine recht hübsche und nicht allzu dumme Frau. Doch dem anderen Geschlecht fiel es ja bekanntlich nicht leicht, Geheimnisse für sich zu behalten. Und der Weiße Knecht wusste nur zu genau, wie redselig sie sein konnte, wenn die Gefühle mit ihr durchgingen. Im Heu plapperte sie manchmal ununterbrochen.
Er blickte sich um. Weiter hinten, neben einem Gatter, an dem die Reisenden vor Einlass in die Stadt ihre Pferde festmachen und tränken konnten, stand der Hitzkopf. Auch er hatte sich schon weit vor der Zeit hier eingefunden. Er lief unstetig hin und her, und wenn er doch einmal stehen blieb und sich gegen einen Pfahl lehnte, dann wippte er unablässig mit dem Fuß.
Sein ganzes Herzblut steckte in diesem Kampf, ahnte der Weiße Knecht. Seit der Fürst ihn für nicht standesgemäß erklärt hatte, die Tochter seines Marschalls zu heiraten, war er bereit gewesen, gegen die bestehende Ordnung zu kämpfen. Zuvor hatte er als Soldat auf der Gegenseite gestanden, doch aufgrund seiner Auflehnung gegen die Hochzeitsabsage war er unehrenhaft entlassen worden. Nun würde er sogar sein Leben dafür geben, für die vom Fürstenhaus so willkürlich eingeschränkte Freiheit der Friesen zu kämpfen. Leute wie der Hitzkopf waren wichtig, auch wenn sie sich aufführten wie wild gewordene Wespen. Wenn er doch nur nicht andauernd herüberschielen würde.
Der Weiße Knecht drehte ihm den Rücken zu. Auf der anderen Seite des Stadttors ging der Straßenkehrer seiner Arbeit nach. Seine Seelenruhe war unbezahlbar, aber er hatte ja auch nichts zu verlieren.
Von links näherte sich jetzt der Kutscher. Er hatte Fässer geladen und steuerte den Wagen geschickt bis zum Stadttor. Dann blieb er in Rufweite stehen und tat so, als habe sich die Deichsel des Wagens verschoben.
Jetzt fehlte nur noch eine Person. Langsam schlich sich die Unruhe in sein Bewusstsein, doch der Weiße Knecht versuchte, seine unguten Vorahnungen zu ignorieren. Sie hatten sicher nichts zu bedeuten. Er hörte nicht gern auf seine Gefühle, denn das machte ihn womöglich verletzlich. Als kleiner Junge hatte er einmal geschworen, sich nie wieder von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Damals hatte er nur dank dieses Schwurs überleben können.
Sie hatte sich bestimmt
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