Die Inselvogtin
zwar ängstlich, aber keinesfalls überrascht zu sein. Carl Edzard in seinem braunen Mantel, dem Spitzenschal um den Hals und den feinen Lederstiefeln ließ sich ohne weitere Gegenwehr aus dem Wagen und auf den Rappen ziehen. Er war ein Fliegengewicht, und dabei hieß es doch immer, der Fürstensohn sei fettleibig. Das helle Haar roch auch nicht nach Parfüm, wie der Weiße Knecht es von den feinen Herrschaften erwartet hatte.
Merkwürdig, dachte der Weiße Knecht. Es ging alles viel zu einfach. Und selbst, als er sein gestohlenes Pferd antrieb und in das dichte Waldgebiet rechts des Weges galoppierte, wollte sich keine Freude, kein Triumph einstellen.
Er wurde das Gefühl nicht los, in eine verfluchte Falle getappt zu sein.
Als er schon beinahe bei den Bäumen angelangt war, vernahm er einen Schuss. Zeitgleich zersplitterte nur wenige Ellen neben ihm der Stamm einer Weide.
Die Soldaten schossen nach ihm. Damit hatte der Weiße Knecht nicht gerechnet. Immerhin befand sich doch der Thronfolger direkt vor ihm, und wenn die Soldaten auf ihn zielten, so könnte auch Carl Edzard getroffen werden. Würden die eigenen Leute es wagen, den Hoffnungsträger des Cirksena-Geschlechts zu erschießen? Wollten sie dieses Risiko tatsächlich eingehen?
Ein zweiter Schuss fiel, brachte sie aber nicht mehr wirklich in Gefahr. Denn auch wenn es sich hier um eine dieser modernen Musketen handeln sollte, konnte selbst der geübteste Soldat auf diese Entfernung nicht mehr zielgenau schießen. Und bis er nachgeladen hatte, würde der Weiße Knecht mit seiner kostbaren Fracht auf und davon sein.
Doch dann vernahm er einen Schrei, der verriet, dass die gefährliche Munition der Salvegarde getroffen haben musste. Der Weiße Knecht schaute sich nur kurz um. Er konnte gerade noch erkennen, wie sich der Hitzkopf den Bauch hielt. Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch, dann kippte er leblos nach vorn. Seine schlaffen Arme umfassten den Hals des Pferdes, dessen Mähne bereits rot gefärbt war. Verdammt, es hatte ihn erwischt.
Der Weiße Knecht trieb den Friesenhengst noch schneller voran in die Baumgruppe und durch sie hindurch. Die tiefen Äste peitschten ihm durch das Gesicht, und auch der Junge musste einige Blätter und Zweige abbekommen. Er jammerte aber kaum, sondern zuckte nur hin und wieder zusammen und legte sich schützend einen Arm vor die Augen. War der Fürstensohn doch nicht der Schwächling, für den das Volk ihn hielt? Manch anderer hätte geheult und vor lauter Schreck vergessen, sich im Sattel zu halten. Doch dieser Kerl zeigte sich wirklich tapfer.
»Wir haben es nicht mehr weit «, ächzte der Weiße Knecht.»Und wenn Ihr weiter so vernünftig seid, werden wir Euch auch kein Haar krümmen.«
»Das tut weh! Diese Zweige … «
Der Weiße Knecht fasste nach seinem Umhang und zog ihn nach vorn. Mit einer Handbewegung hatte er den grünen Stoff über das Gesicht und den Oberkörper des Jungen geworfen.»So seid Ihr geschützt! Außerdem ist es ohnehin besser, wenn Ihr nicht wisst, wohin wir reiten.«
»Die Soldaten werden Euch sowieso finden, noch vor Sonnenuntergang!«
»Darauf würde ich nicht schwören, Eure Durchlaucht.«
Der Weiße Knecht hatte den kleinen Wald hinter sich gelassen. Vor ihnen lag nun ein weites Feld, auf dem der Buchweizen fast schon in Kniehöhe stand. Ein unsicheres Stück Land, das es zu überqueren galt. Hier gaben sie eine gute Zielscheibe ab, doch niemand schien ihre Fährte aufgenommen zu haben.
Hatten die Soldaten so bald aufgegeben? Wieder beschlich den Weißen Knecht das Gefühl, dass nicht er die Fürsten genarrt hatte, sondern es sich vielmehr umgekehrt verhielt.
»Ihr seid der Weiße Knecht, nicht wahr?«, vernahm er plötzlich die Kinderstimme unter dem Tuch.
»Es ist mir eine Ehre, dass Ihr bereits von mir gehört habt. Was erzählt man sich denn? Dass ich kleine Kinder fresse?«
»Ich habe keine Angst vor Euch «, kam die Antwort.
Der Weiße Knecht wollte etwas erwidern, doch dann ließ er es bleiben, denn im Grunde genommen wollten weder er noch die anderen Männer diesem Jungen etwas antun. Carl Edzard brauchte sich nicht zu fürchten. Und wenn dieses Kind nun vielleicht gar nicht so dumm und einfältig war wie sein Ruf, dann konnte man eventuell sogar Einsicht von ihm erwarten. Denn Carl Edzard entsprang immerhin dem Geschlecht der Cirksena. Diese Familie hatte einst mutige Herrscher, Kämpfer und Politiker hervorgebracht, auch wenn dies einige Jahrhunderte zurücklag.
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