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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Vielleicht war das Blut dieses Jungen noch nicht verwässert durch die Adelszucht, sodass vom Geist seiner Urahnen etwas übrig geblieben war. Warum sollte man den zukünftigen Herrscher dann bedrohen, wenn man ihn vielleicht auch für sich gewinnen konnte?
    Er ist jedenfalls tapferer, als ich dachte, sagte sich der Weiße Knecht, als sie das Feld überquert hatten. Am Horizont war nun bereits der Deich zu erkennen. Ein grüner Wall, der den äußersten Rand des Festlandes markierte. Und dorthin wollte der Weiße Knecht.

12
    J osef Herz war fürstlicher Kartenmaler und damit ein mächtiger Mann. Auch wenn man das dem weißhaarigen Geographen nicht ansah, denn er wirkte klein und sogar ein bisschen verschüchtert. Aber sein Wissen um die Ausmaße des Fürstenreiches war beachtlich. Er kannte die genaue Aufteilung der Deichachten, wusste sämtliche befahrbaren Wege aus dem Gedächtnis auf ein Blatt Papier zu zeichnen und hatte sogar die Wasserstraßen mit Zirkel und Federkiel niedergeschrieben. In seine Schreibstube kamen die Gesandten der Cirksena, wenn sie sich ein Bild davon machen wollten, wie die Grenzen ihrer Macht verliefen und wo das Meer bei der letzten Sturmflut ein Stück Land eingefordert hatte.
    Dass sich ab heute der Nachfolger der Fürsten als Gefangener in seinem Hinterzimmer befinden würde, darauf käme sicher so bald niemand.
    Josef Herz hatte seinen einzigen Sohn bei der Schlacht auf der Pfefferstraße verloren. Vor jenem Tag hatte der alte Mann nichts mit den Aufständischen zu tun gehabt. Danach bot er ihnen seine Hilfe an. Und die war sehr viel wert. Seine Stellung in Ostfriesland war gesichert, und selbst wenn man seine Beteiligung an der Entführung irgendwann einmal vermuten würde, einen Mann wie ihn, Josef Herz, würde niemand gefangen nehmen und zur Aussage zwingen können.
    Als er das Haus des Kartenmalers entdeckte, ließ der Weiße Knecht das Pferd im Schritt laufen. Jegliche Eile hätte unnötig Aufmerksamkeit erzielt. Zwar war hier in dieser Gegend keine Menschenseele unterwegs, es gab auch keine befestigten Wege, und der nächste Hof war meilenweit entfernt, aber endlich fand er etwas Zeit, ein wenig durchzuatmen. Das überstürzte Handeln und die anschließende Flucht waren anstrengend gewesen. Der Schweiß lief ihm jetzt am Körper hinunter. Wie erfrischend war da doch der leichte Wind, der jetzt vom Meer herüberwehte.
    »Sind wir am Strand?«, fragte der Thronfolger.»Bitte, darf ich kurz gucken?«
    »Nein!« Der Fürstensohn sollte nach seiner Befreiung nicht in der Lage sein, das Versteck zu beschreiben. Doch das Kind setzte sich zur Wehr, als der Weiße Knecht den Umhang dichter zog.»Es ist nicht mehr weit «, versuchte er den Jungen zu beruhigen.
    Umgeben von einigen Büschen und Bäumen lag das Haus von Josef Herz lediglich einen Steinwurf vom Deich entfernt. Es war nicht besonders groß, ein bisschen aus den Angeln geraten, die Fensterläden schlossen nicht mehr richtig, und Efeu überwucherte die windgeschützte, östliche Mauer.
    Der Weiße Knecht seufzte. Ein Heim wie dieses wünschte er sich für die Zeit, wenn er seine Ziele erreicht hatte. Manche Menschen mochten ihn für den geborenen Rebellen halten: ein Mann ohne Vergangenheit und Zukunft, dessen einzige Aufgabe darin bestand, für die Freiheit zu kämpfen.
    Aber es gab auch diesen anderen Mann, der einen Namen hatte, einen Beruf, eine Heimat. Zwar hatte er selbst immer öfter das Gefühl, dass dieser Mann mehr und mehr in Vergessenheit geriet und unwiederbringlich verschwand im Schatten des Weißen Knechts. Aber die Heimstatt des Kartenmalers erinnerte ihn an seine Kindheit. An das Haus, in dem er als kleiner Junge gelebt hatte, auch wenn es dort weder Büsche noch Bäume noch Efeu gab. Aber dieses Geborgene, Geduckte ließ ihn an damals denken, als er noch gewusst hatte, wohin er gehörte und wo sein Zuhause war.
    Worüber denkst du da eigentlich nach, schalt er sich selbst. Solch ein gefühlsdusliger Unsinn.
    Der eingewickelte Junge begann ungeduldig zu werden, die strampelnden Arme und Beine waren unter dem grünen Stoff auszumachen, als er ihn vom Pferd hob.
    »Jetzt ist es aber gut!«, schimpfte der Weiße Knecht.
    »Warum rettet mich niemand?«, beschwerte sich das Bündel.
    Der Weiße Knecht musste lachen, das Trotzige und Widerstandsfähige seines Entführungsopfers gefiel ihm irgendwie.
    »Eure Durchlaucht, wenn Ihr mich fragt, so muss ich ehrlich antworten: Ich denke, es mag daran liegen, dass meine

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