Die Inselvogtin
Leute und ich schlauer sind als die Soldaten Eures Vaters.«
»Was wollt Ihr denn eigentlich mit mir?«
»Wir wollen Eure Familie zum Nachdenken bringen. Mehr nicht.«
»Wie lange muss ich hierbleiben?«
»Das liegt ganz in den Händen Eures Vaters.«
»Und wann werde ich endlich diesen muffigen Sack los? Mir ist schrecklich heiß, und der Stoff riecht so, als hätte das Vieh darauf geschlafen.«
»Sobald wir im Haus sind, enthülle ich Euer empfindliches Näschen, Durchlaucht!«
Die Tür war nur angelehnt, und der Weiße Knecht schob den Thronfolger vor sich her in den kleinen Raum, der auffallend große Fenster hatte. Die letzten Strahlen der tief stehenden Sonne fielen gerade herein und tauchten den Raum in ein warmes Licht.
Josef Herz stand an seinem Zeichenpult. In der einen Hand hielt er einen Zirkel, in der anderen den Kompass. Er war in seinen Auftrag vertieft und fixierte mit seinen für sein Alter erstaunlich klaren Augen einen Punkt auf der Papierrolle vor ihm.
Dem Weißen Knecht erschien das Zeichnen, Messen und Rechnen noch immer als unbegreifliche Kunst, auch wenn der Jude ihm schon mehrmals seine Arbeit zu erklären versucht hatte.
Er begrüßte den Kartenmaler und schob den noch immer vermummten Fürstensohn vor das Pult.
Der Mann würdigte sie keines Blickes, sondern schob ein Messinglineal mit langsamer Bewegung über das Blatt und schaute dabei durch ein schmal zulaufendes Rohr.
»Nimm dem Kind die Decke vom Kopf. Ich dulde keine Gefangenen in meinem Haus.«
»Ich dachte, wir bringen ihn erst nach hinten.«
»Nein, er hat sicher Angst. Und das will ich nicht. Hier soll sich niemand fürchten müssen.«
Der Weiße Knecht seufzte. Josef Herz war ein freundlicher, weiser Mann, aber auch ein sturer Bock, wenn es um seine Prinzipien ging.»Er könnte Rückschlüsse darauf ziehen, wo wir sind.«
»Wir sind in der Nähe des Meeres!«, sagte die Stimme unter dem Umhang.
»Siehst du, der Junge ist ohnehin zu schlau, als dass wir ein großes Geheimnis um uns machen müssen. Also bitte … « Jetzt schaute der Kartenmaler erstmals hoch. Seine hellblauen Augen blickten auf das Bündel, er nickte auffordernd.
»Wenn Ihr meint … « Der Weiße Knecht hob den grünen Stoff an. Die Enden hatten sich beim wilden Ritt verheddert, und er musste daran zerren, um ihn zu lösen.
Der Fürstensohn half eifrig mit, bis er endlich befreit war. Seine Augen schienen sich erst an das Helle gewöhnen zu müssen, er blinzelte in den Raum und hielt sich den Arm vor das Gesicht. Er war ein hübsches Kind mit einem feinen Gesicht, frischer Haut und vollem Haar, die Wangen gerötet in derselben Farbe wie die geschwungenen Lippen. Als er endlich den Arm sinken ließ, erkannte man auch seine Augenfarbe: hellblau, wie der Himmel über dem Meer.
»Wo habt Ihr dieses Kind aufgegabelt?«, fragte der Kartenmaler und gab sich keine Mühe, die Belustigung in seinem Tonfall zu verbergen.
»In der Fürstenkutsche. Er saß neben Sophie Caroline … «
Der Jude schüttelte langsam den Kopf.»Ich kenne Georg Albrecht von Ostfriesland persönlich, er ist feist, und seine Nase ist ein Monstrum. Sein einziger Sohn ist mir zwar noch nie begegnet, aber ich habe mal ein Porträt von ihm in die Ecke einer Karte zeichnen müssen. Der Fürstenspross ist kein Schreckgespenst, aber mit Sicherheit auch nicht so ein … Wie soll ich sagen? Nun, wisst Ihr, als Kartenmaler hat man ein genaues Auge für Details … «
»Was wollt Ihr damit andeuten?«
Der Kartenmaler machte einen Schritt von seinem Pult weg, zog das Kind näher ans Fenster und begutachtete es.»Die Wimpern sind lang und dunkel. Die Augenbrauen geschwungen wie die Mondsichel. Das Kinn ist zierlich. Die Hände schmal. Der Kopf sitzt gerade auf dem Hals … «
»Sprecht endlich klar!«
»Wen immer Ihr da heute entführt habt, es ist mit Sicherheit kein Mitglied der fürstlichen Familie.«
Der Weiße Knecht starrte das Kind an. Das durfte nicht wahr sein! War alles umsonst gewesen? Der sorgsame Plan, der gefährliche Ritt, der Tod seines Kumpanen – alles ein großer Irrtum?
»Ihr meint, wir haben den falschen Jungen?«
Wieder schmunzelte Josef Herz, und sein Gesicht zeigte Hunderte Falten.»Seid Ihr denn gänzlich blind? Ihr habt überhaupt keinen Jungen erwischt, sondern ein Mädchen. Ein hübsches, aufgewecktes, mutiges Mädchen.«
Nein! Der Weiße Knecht schluckte. Ihm wurde plötzlich ganz heiß. Aber jetzt, wo der alte Mann es ausgesprochen hatte, sah er es
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