Die Inselvogtin
auch: So weich und weiblich konnte selbst der verhätschelte Thronfolger nicht aussehen. Die blonden Locken dieses Kindes waren nicht künstlich frisiert worden, das Haar wirkte seidig und natürlich. Unter dem festen Westenstoff zeichneten sich zwei winzige Hügelchen ab …
Darum hatte es keine Salvegarde bei der Kutsche gegeben! Darum war alles so einfach gewesen! Jemand hatte ihren Plan verraten, und dann hatten sie ein anderes Kind aus dem Waisenhaus in die Kutsche gesetzt. Derweil mussten Carl Edzard und seine Stiefmutter unbehelligt durch ein anderes Stadttor entkommen sein.
Wie hatte er nur so unglaublich naiv sein können? Nie zuvor war der Weiße Knecht so wütend auf sich selbst gewesen. Er hätte sich ohrfeigen können. Zornig wandte er sich an die Geisel.
»Hat man dich überredet, die Rolle des Prinzen zu übernehmen?«
»Ich selbst hatte die Idee … «
»Und dann versprachen sie dir, dich zu retten. Aber kein Soldat hat sich angestrengt, dich vor deinem Schicksal zu bewahren.«
Das Mädchen schluckte.»Wir waren wohl zu schnell für die Männer, glaube ich.«
Der Weiße Knecht schnaubte.»Man hat dich geopfert. Du bist ein Nichts.«
»Ich bin Maikea.« Sie griff sich in den Hemdkragen und holte ein silbernes Medaillon hervor.»Schaut Euch die Bilder an. Das sind meine Eltern. Ich bin kein Nichts! Ich bin die Tochter des Juister Inselvogtes Boyunga.«
»Was?« Der Weiße Knecht fühlte, wie der Schreck ihm das Blut gefrieren ließ. Sämtliche Hitze wich nun aus seinem Körper. Das konnte nicht wahr sein! Das war zu viel für ihn.
Erinnerungen rissen ihn zurück in das Leben, in dem er einen Namen gehabt hatte, ein Zuhause, eine Mutter, einen Auftrag. Er sah die starren Augen einer Gebärenden, er roch das Blut und die Angst, er hörte das Wort»Gottesaufgabe «, dann das Schreien eines Säuglings. Und plötzlich war alles wieder da: das Haus in den Dünen, der Sturm, die Männer, die Welle, das Aus.
13
W ir haben das Küchenmädchen. Sie war gerade auf dem Weg zum Herdetor. Wahrscheinlich, um die Rebellen zu warnen.« Zwei Soldaten kamen in den Speisesaal und schleppten eine Frauengestalt zwischen sich herein.
Weert erkannte Helene. Der Kopf war ihr schräg auf die Schultern gefallen, als schliefe sie, doch die zahlreichen Wunden im Gesicht und am Körper gaben eine andere Erklärung für ihre Ohnmacht. Das Kleid war zerschlissen. Vielleicht hatte man sie ein Stück weit hinter sich her geschleift, dachte Weert. Geschah ihr ganz recht, fand er und musste sich sehr zusammennehmen, damit niemand seine Genugtuung mitbekam.
Kanzler Brenneysen jedoch interessierte sich kaum für die Gefangene.»Was ist mit dem Weißen Knecht? Habt ihr ihn?«
Der direkte Vertreter des Fürsten war ohnehin auf dem Weg nach Esens gewesen, um die fürstliche Familie sicher nach Hause zu geleiten. Nun nahm er gleich die Fäden in die Hand. Entschlossenheit lag in seiner Stimme, als er die Befehle erteilte, wie man nach dieser Beinahe-Katastrophe vorzugehen habe.
Er war ein großer Mann mit kantigem Gesicht und hellgrünen Augen, der eine gewaltige, falsche Lockenpracht auf dem Kopf trug. Seine ganze Erscheinung wirkte derart erhaben, dass Weert ihn vom ersten Moment an bewunderte. Als der Kanzler ihm anerkennend auf die Schulter geklopft hatte und ihm für seinen mutigen Einsatz gegen die Rebellen dankte, hatte Weert innerlich geglüht vor Stolz.
»Ich will wissen, was aus dem Anführer geworden ist, bevor ich Ihre Durchlaucht auf die gefährliche Weiterreise schicke.«
»Unsere Männer sind noch nicht alle wieder hier «, erklärte einer der Soldaten.»Aber soweit wir unterrichtet sind, hat der Weiße Knecht unser Täuschungsmanöver nicht bemerkt und ist mit der falschen Geisel davongeritten. Leider gab es einen Toten.«
Brenneysens Gesicht wurde augenblicklich zornesrot, und er sprang so schnell von seinem Stuhl auf, dass dieser nach hinten kippte.»Bei einem solch gut geplanten Einsatz lasst Ihr einen meiner Männer über die Klinge springen?«
»Es war einer der Rebellen. Bauchschuss.«
Einer der Wächter hob den Stuhl wieder auf, und Brenneysen ließ sich beruhigt darauf nieder.
»Mmh, aber irgendwann wird der Weiße Knecht seinen Irrtum bemerken. Bis dahin sollten wir die Stadt verlassen haben. Gebt mir die Karte!«
Auf dem Esstisch wurde eine Papierrolle ausgebreitet. Weert hatte ein solches Bild noch nie gesehen und konnte mit den vielen Linien und Punkten nichts anfangen. Erst als der Kanzler mit
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