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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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die Bürste, in der sich einige goldene Haare befanden, spiegelte sich auf der Kommode. Alles umsonst. Alles war umsonst.
    Sie war Opfer eines furchtbaren Betruges geworden, aber dafür hatte sie ihre Familie, ihre Heimat nicht verlassen. Der Zorn schien ihren Körper zerreißen zu wollen. Wilhelmine wusste nicht, wohin damit. Sie griff nach der Bürste, die eben noch von dieser verfluchten Jantje gehalten worden war, und schleuderte sie gegen den Spiegel. Unter großem Getöse zerbarst das Glas.
    In den Scherben betrachtete Wilhelmine ihr eigenes zerbrochenes Gesicht.
    »Das sollst du mir büßen!«, zischte sie. Und erst als sie die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr bewusst, dass die Rache wohl das Einzige sein dürfte, was diese schmerzhafte Wut würde lindern können.»Wenn ich heute Nacht wieder vergeblich warte, werde ich es euch beiden heimzahlen, das schwöre ich!«
    Wilhelmine ließ sich auf das breite, sorgsam drapierte Bett fallen und starrte an die Decke.
    Vor den großen Fenstern lag die lange Nacht. Die Kerzen brannten herunter. Und Wilhelmine blieb allein.

9
    E s war heiß, obwohl sich die Sonne hinter faserigen Wolken verbarg. Die Luft lag heute wie eine schwere Decke auf dem Land und schien alles ringsherum niederzudrücken. Keine Welle erhob sich, kein Grashalm bewegte sich, das Vieh lag träge auf der Weide und war stumm.
    Maikea hatte die Orientierung verloren. Zwar sah sie nach wie vor die Landkarte vor ihrem geistigen Auge, aber ihr Kopf war schwer, als trage sie ein plumpes Gewicht auf dem Scheitel.
    Marienhafe mit seinem klobigen Kirchturm lag hinter ihr, davor war sie in Greetsiel gewesen. Nun folgte sie wieder einmal dem Deich, der sich als sicherer, ja fast vertrauter Weg bewährte.
    Wie viele Schritte sie in der letzten Woche getan hatte, vermochte Maikea nicht mehr nachzuvollziehen. Jeder Schritt ein Atemzug, jeder Atemzug drei Herzschläge, jeder Herzschlag ein Stück näher an der Hoffnungslosigkeit. Sie aß und trank, was sie am Wegesrand und in den kleinen und großen Ortschaften auftreiben konnte, ohne dafür bezahlen zu müssen. Es war jämmerlich wenig.
    Das blaue Kleid war inzwischen nicht mehr als ein Fetzen, der sie notdürftig bedeckte und wärmte. Sie schlief unter freiem Himmel und mied des Nachts die Dörfer, wo sie sich vor den Menschen fürchtete. Menschen, denen es egal war, wenn man an ihren Verstand oder ihr Mitgefühl appellierte. Die Dorfbewohner brachten Maikea dasselbe Misstrauen entgegen wie sie ihnen. Und unangenehme Begegnungen waren keine Seltenheit. Nicht nur in Dornum bevölkerten nachts die Trunkenbolde die Gassen. Zum Glück regnete es nur wenig, sodass ihre Schlafstätten im Getreidefeld oder unter einem windschiefen Baum meist trocken waren.
    Nie zuvor war Maikea so nah an ihre Grenzen gekommen wie in den letzten Tagen, in denen sie sich auf die Suche nach dem Rebellenführer gemacht hatte. Es waren nicht nur die körperlichen Entbehrungen – Hunger, Durst, Erschöpfung, Angst –, die sie verzweifeln ließen, sondern vielmehr die quälenden Gedanken, die ihr auf dem scheinbar endlosen Weg den Kopf füllten: Warum tat sie sich das an? War vielleicht alles umsonst?
    Sie war doch nur eine junge Frau, die von der Welt nicht viel gesehen hatte. Ein Weib, das sich vor den Menschen manchmal fürchtete und zudem noch arm, allein und orientierungslos durch die Gegend lief. War ihr eigentliches Ziel, einmal Inselvogtin zu werden, in Wirklichkeit unerreichbar?
    Warum sich Maikea ausgerechnet vom Weißen Knecht eine Antwort auf ihre bohrenden Fragen versprach, wusste sie selbst nicht genau. Aber sie musste diesen Mann finden. Sonst würde sie zugrunde gehen.
    Doch keiner der wenigen Hinweise, auf die sie bei ihrer Suche nach ihm bisher gestoßen war, hatte sie dem Weißen Knecht auch nur ein Stückchen nähergebracht. Manchmal schien er geradezu unwirklich zu sein, so als wäre er kein Mensch aus Fleisch und Blut. Entweder zuckten die Menschen die Achseln, schüttelten die Köpfe und grummelten:»Wir haben noch nie etwas von ihm gehört.«
    Oder aber das Gegenteil passierte, und jeder meinte genauestens Bescheid zu wissen.
    » … Er ritt auf einem braunen Haflinger Richtung Greetsiel. Das ist keine zehn Stunden her … «
    » … Das kann nicht sein. Genau zu der Zeit soll er in Leer mit einer Horde Straßenräuber unterwegs gewesen sein!«
    » … Ihr lügt, der Kerl sitzt schon seit Jahren im Gefängnis, das weiß ich genau!«
    So oder ähnlich war es Maikea

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