Die Inselvogtin
der sie mit ihrer Mutter und Geeschemöh gelebt hatte? Stets hatte sie die Sehnsucht nach Juist in ihrem Herzen gespürt, aber heute, wo alles so schrecklich wehtat in ihrer Brust, heute war es fast nicht zu ertragen. Maikea wusste, es waren nicht nur einige Meilen, die sich zwischen ihr und der Insel breitmachten. Es waren vor allem die Jahre, die sie von ihrer Heimat entfernten. Selbst wenn sie nach Juist zurückkehren könnte, wäre es wohl nicht derselbe Ort, den sie als Elfjährige so unfreiwillig verlassen hatte. Denn sie war nun ein anderer Mensch. Eine erwachsene Frau. Aber vor allem das Wissen hatte sie verändert.
Obgleich ihr alle Berechnungen und Pläne nicht erst seit ein paar Tagen so lachhaft erschienen, als habe ein kleines Kind sie im Spiel dahingemalt. Vor einem Monat erst war sie noch stolz mit den Karten unter dem Arm in die Kanzlei marschiert, heute schämte sie sich für ihre Unzulänglichkeit. Hatte sie wirklich geglaubt, ihre Heimat ließe sich in eine einfache mathematische Formel zwängen?
Ihre Erkenntnisse waren lächerlich, wenn man die Welt dagegenhielt. Der Vorwurf der Gotteslästerung war vielleicht sogar berechtigt. Es war eine Beleidigung für den Schöpfer, wenn man ihn so simpel auszutricksen versuchte. Sie würde noch vieles studieren, beobachten und abmessen müssen, um das Ganze nur ein kleines bisschen besser zu verstehen. Und Maikea ahnte, dass es noch nicht an der Zeit war, in ihre Heimat zurückzukehren. Niemand würde auf sie warten, geschweige denn auf sie hören, wenn sie es wagte, von ihren Ideen zu erzählen.
Dies war wahrscheinlich die Erkenntnis, die Maikea am meisten schmerzte.
Sie schloss die Augen, lauschte dem Gekicher einer Seemöwe und der langsamen Brandung an der Kaimauer. Sie versuchte, die Wellen zu zählen, wollte den Rhythmus erfassen, doch im selben Moment war sie eingeschlafen.
Erst die plötzliche Kühle eines Schattens ließ Maikea wieder erwachen. Sie hielt sich die Hand vor das Gesicht, blinzelte schläfrig und erschrak: Ein großer Mann hatte sich vor ihr aufgebaut, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Hier also hat es sich meine hartnäckige Verfolgerin gemütlich gemacht.« Er lachte. Erst jetzt erkannte Maikea die weiße Kleidung, den blonden Zopf und das vertraute Gesicht, dessen Mimik sich spöttisch zeigte.»Sag bloß, du hast die Suche nach mir aufgegeben.«
Sie setzte sich auf und wusste vor Verlegenheit nicht, ob sie sich freuen oder ärgern sollte, dass der Weiße Knecht, nach dem sie die ganze Zeit gesucht hatte, sich nun so einfach zu ihr gesellte.
»Was macht Ihr hier?«
»Nachdem mir in jedem noch so kleinen Nest erzählt wurde, dass ein hübsches Mädchen im blauen Kleid nach mir gefragt hat, habe ich mich selbst auf die Suche nach ihr gemacht.«
Maikea hätte gern gewusst, ob er böse mit ihr war und ihr die Schuld am Tod des Kartenmalers gab. Der Weiße Knecht hätte einen guten Grund, sie zum Teufel zu jagen.
»Es tut mir so leid, was die Soldaten mit Josef Herz gemacht haben … «
»Hast du mich die ganze Zeit gesucht, um mir das zu sagen?«
»Es ist … es war … « Ihr Kopf war leer, wie ausgehöhlt.
»Da ich annehme, dass nicht du dem armen alten Mann ein Messer in den Leib gerammt und anschließend sein Haus in Brand gesteckt hast, gibt es keinen Grund, sich zu entschuldigen.«
»Wäre ich nicht nach Aurich gegangen … «
»Hör auf, Maikea. Die Soldaten des Kanzlers sind nicht erst seit gestern eine gnadenlose Truppe, und Josef Herz ist nicht ihr erstes Opfer. Warum wohl hat er sich damals unseren Leuten angeschlossen? Weil sein einziger Sohn von denselben Männern getötet worden ist.« Seine Worte waren leidenschaftlich, seine Gestik voller Tatendrang.»Der Kampf, den wir seit Jahrzehnten führen, hat viel Blut gekostet. Und zwar auf beiden Seiten. Das wusste Josef Herz. Das weiß ich, und nun weißt du es auch.«
»Ich bin bei Helene gewesen. Sie hat mir erzählt, dass Ihr sie verlassen habt, um wieder zu kämpfen.«
»Und dann bist du mir gefolgt?«
»Vielleicht könnte ich … dabei sein?«
Er lachte wieder.»Maikea Boyunga als Rebellin? Hast du nicht immer behauptet, du wolltest Inselvogtin werden?«
»Das war kindisch von mir. Eine Frau kann es niemals schaffen. Das habe ich inzwischen begriffen.«
Er ließ sich neben ihr auf dem Stein nieder. Die unmittelbare Nähe fühlte sich seltsam an, denn Maikea war sich auf einmal bewusst, wie gern sie seinen Arm berührt hätte, die hellen Haare auf
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