Die Inszenierung (German Edition)
sind zu Staub … Bis dahin aber herrscht Schrecken, Schrecken …
Pause.
Da naht mein mächtiger Gegner, der Teufel. Ich sehe seine grässlichen, glutroten Augen …
Pause.
Und jetzt? Wie fühlst du dich?
Komisch.
Wie KOMISCH?
Ich habe das Gefühl gehabt, es kommt nicht darauf an, dass ich den Text verstehe.
Du kannst nichts falsch machen, Ute-Marie. Das habe ich in jeder Sekunde unseres Zusammenseins erlebt. Du bist nicht irritierbar. Das ist deine Natur! Diese Unirritierbarkeit. Selbst wenn du den Text jetzt so gelesen hättest, dass nur noch hörbar wird, dass du ihn nicht verstehst, selbst dann hätte man dir zugehört. Es wäre interessant gewesen, wie du etwas liest, das du nicht verstehst. Aber du hast den Text ganz anders gelesen.
Wie denn?
Ja. Ute-Marie, es tut mir leid, aber ich muss dir sagen, du kannst Schauspielerin werden. Es war einfach in jeder Sekunde interessant, wie du diesen seltsamen Text erlebst. Du hast in keiner Sekunde etwas vorgetäuscht. Du hast in keiner Sekunde eine Bedeutung gespielt, die du nicht erlebt hast. Ich habe noch nicht gesagt, was ich sagen will. Ich rede herum. Ute-Marie! Ich habe gehört, wie du gelesen hast. Das ist es. Jetzt komme ich drauf. Ich habe nicht verstanden, sondern gehört. Und das kommt davon, dass du gesungen hast. Jaaa! Jetzt hab ich’s. Du hast einen Ton gesucht für den Text. Du hast ihn gefunden. Dann war es Gesang. Ein Ton für alles. Wie Gregorianik. Wie die Mönche. Dieses Auf und Ab, egal, was der Text gerade will. Das war’s, Ute-Marie. Gregorianik, MÖNCHE nehm ich zurück. Du hast einen Ton gefunden, der dir wichtiger war als der Inhalt. Und dieser Ton war, Ute-Marie, der war schön. Der Text schwebte auf deinem Ton. Trotz aller Schwere leicht. Keine Erpressung per Apokalypse, sondern die sieghafte Leichtigkeit des Textes über jeden Weltuntergang. Und das ist es doch, Ute-Marie! Solang wir noch einen Text haben für den Weltuntergang, ist es ein Sieg. Ein Sieg über alles. Ich danke dir, Ute-Marie, du wirst in meiner Inszenierung die Nina spielen!
Arie! Arie! Arie! Und Quatsch! Unsinn! Wahnsinn! Idiotie! Nur weil du mich magst, hat’s dir gefallen. Nur darum!
Hat es dir nicht auch gefallen?
Ja, das geb ich ja zu. Aber …
Aber das ist es! Darauf allein kommt es an! Du hast den Text nicht erobert. Du hast die Fremdheit des Textes nicht weggelogen durch irgend ein Verständnis. Es sei ein Traumbild, sagt der junge Dichter voraus. Durch einen Ton, durch deinen Ton hast du die Fremdheit dieses Traumbildes erlebbar gemacht. Wie du die Pausen … ausgedrückt hast. Sechsundvierzigmal steht PAUSE in diesem Stück. Der Fachmann Gerigk hat’s gezählt. Und das sind keine Konversationspausen, keine Zum-Buffet-Renn-Pausen. Das Dasein selber hält inne. Sammelt sich. Und geht dann unvorhersehbar weiter. Und du hast diese Pausen … ja, ausgedrückt! Bei der ersten Pause hast du nach oben geschaut, ich dachte: Wenn’s ein Jenseits gibt, kommt Anton Pawlowitsch jetzt herunter! Bei der zweiten Pause hast du in die Ferne geschaut, als hänge alles davon ab, dass es eine Ferne gibt. Dann bist du zurückgekehrt. Hast deinen Ton gehabt. Und dich von ihm tragen lassen. Du bist nicht irritierbar. Du kannst nichts falsch machen. Noch nicht. Und dass das so bleibt, dafür sorge ich. Corinna Demski wird umbesetzt. Ich verspreche ihr in Stella die Hauptrolle. Aber in der Möwe spielt Ute-Marie Wiese die Nina!
Schatz. Ich brächte auf einer Bühne keinen Satz heraus.
Du hättest die Sätze gelernt.
Aber ich könnte sie nicht sagen. Ich wäre viel zu gehemmt.
Du würdest die Sätze sagen, und zwar mit allen deinen Hemmungen. Du würdest schon gern aus dir herausgehen, aber die Hemmungen! Wer diese Hemmungen nicht kennt, diese Sperre, die dir verbieten möchte zu sagen, was in dir vorgeht, wer diese Hemmungen nicht kennt, ist auch kein Schauspieler. Der Schauspieler ist der zutiefst Gehemmte, der sich danach sehnt, endlich aus sich herausgehen zu können. Von anderen unterscheidet er sich nur dadurch, dass er sich danach sehnt, aus sich herausgehen zu können. Und wenn nicht alle Menschen oder doch viele Menschen diese Hemmung hätten, die uns auf der Bühne aus uns herausgehen lässt, gäbe es kein Theater. Wir spielen nicht nur etwas vor. Wir zeigen, wie wir unsere Hemmungen überwinden. Der Zuschauer erlebt, wie wir gegen unsere Hemmungen kämpfen, und dadurch erlebt er sich selbst. Erlebt er, was er auch möchte: aus sich herausgehen!
Wieder
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