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Die Inszenierung (German Edition)

Die Inszenierung (German Edition)

Titel: Die Inszenierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Nachrichten von einander.
Dein Dich umarmender, aber nicht festhalten könnender
Hans Georg

PS
Der Regen trommelt laut und leise
der Wind wischt nass übers Dach
die Welt rauscht wie ein Bach
die Wettermusik spielt die alte Weise
I miss seeing you. H G
    Augustus ist bewegt. Er muss sofort antworten.
Du mein lieber Hans Georg,
das kannst Du: eine Sehnsucht erwecken nach einem Chestertown. Frag, ob die ein Drama-Department haben. Ich komme sicher nicht. Aber ich möchte zu gern kommen. An den Fluss mit Ebbe und Flut. Von mir nur so viel: Deine Umstände und meine Umstände erlauben es, von unseren Umständen zu sprechen. Ausführlich kann ich erst werden, wenn die Unwetter, die mich zur Zeit, nicht ohne meine Mitwirkung, bedrängen, es zulassen.
Alle Empfindungen in ein Grußwort zwingend,
Dein Augustus

[zur Inhaltsübersicht]
    6
    Augustus schaut sich im Spiegel an, dann zieht er den Morgenmantel aus und legt sich ins Bett. Er wartet. Schaut auf die Uhr. Zwingt sich, wegzuschauen. Er nimmt die Uhr ab. Sie kommt in eine Schublade. Es klopft, aber Ute-Marie tritt ein, bevor Augustus Ja sagen kann.
    Sie lässt sich in den Sessel fallen.
    Augustus hat, sobald er sah, dass es Ute-Marie ist, die Brille abgenommen.
    Alle drei auf einmal! Die Baronin hat den Beutel voll. Dem Allgäuer läuft wieder Blut am Katheter heraus. Der Alkoholiker brüllt, dass er hier zur Prostata-OP sei und nicht auf einer Entziehungskur. Ich habe ihm sofort eine Flasche Bier gebracht. Der Doc hat’s erlaubt. Gestern hat er alle Leitungen durchgeschnitten. Kaum hatte er das Bier, wollte er mich heiraten.
    Augustus ist aufgestanden. Er will ihr die Haare lösen.
    Nein. Lass, Liebling. Ich habe zwar den Doktor gebeten, dass der Alkoholiker ein stärkeres Schlafmittel kriegt. Eigentlich müssten wir jetzt Ruhe haben. Trotzdem …
    Die Wände knistern, wenn du eintrittst, und sie weinen, wenn du gehst.
    Ach, Schatz, deine Arien!
    Jeden Abend kommst du noch später. Ab neun wäre mit dir zu rechnen. Aber wird es je neun? Ich erlebe nur noch, wie die Sekunden einander am Vergehen hindern. Ab acht schau ich immer öfter auf die Uhr. Um Viertel nach acht. Um halb neun. Und was seh ich: Die Zeit ist rückwärts gelaufen. Es ist gar nicht halb neun! Statt halb neun ist es jetzt erst halb acht. Das ist Apokalypse pur! Was denn noch! Und schau noch einmal hin und seh, vor lauter Panik hab ich mich getäuscht! Es ist tatsächlich doch halb neun. Die Weltordnung ist wieder hergestellt. Jetzt schieb ich die trägen Sekunden an, dass sie, bitte, ein bisschen schneller vergingen! Und sie tun’s nicht! Sie kleben aneinander und drohen: Wenn ich nicht sofort wegdächte von ihnen, verfielen sie in den totalen Stillstand! Die Welt hält den Atem an. Und ich auch.
    Schatz, ich mag deine Arien. Du bist der unterhaltsamste Mann, den ich je kennengelernt habe.
    Und du lernst jede Nacht neue Männer kennen!
    Und jeder Dritte macht mir, wenn ich zweimal seinen Puls messe, einen Heiratsantrag. Es ist beeindruckend, was kranken Männern alles einfällt.
    Du musst hier raus!
    Ich habe das Stück gelesen. Sogar mehr als einmal.
    Und?
    Auch wenn ich etwas nicht verstanden habe, habe ich verstanden, warum.
    Warum was?
    Warum ich es nicht verstanden habe, habe ich verstanden. Dadurch kommt mir das Stück jetzt vertraut vor. Aber bevor du mich verhörst, musst du dir anhören, was ich aufgeschrieben habe. Nicht über das Stück, sondern über uns. Weil ich in eine Bewegung gekommen bin. Durch das Stück. Und weil ich, wenn ich bei dir bin, oft nicht zu Wort komme. Hör zu jetzt!
    Schatz, wenn ich dir zuhöre, erlebe ich, dass meine Seele Ohren hat!
    Bla, bla, bla. Wart’s ab. Und du unterbrichst mich nicht!
    Versprochen!
    Ich fühle mich, als hätte mir jemand eine Woche lang die Droge verabreicht, von der ich nicht wusste, dass sie mir gefehlt hat. Jetzt, da sie mir gegeben wurde, weiß ich, spüre ich, dass sie mir und wie sie mir gefehlt hat. Sobald du weg bist, fehlst du mir. Deine Abwesenheit ist unerträglich. Verzweiflung. Ohne dich ist alles Verzweiflung. Die Erinnerungen schreien durch einander. In mir. Alles, was gewesen ist, führt sich grell auf. Wörter, Berührungen, unser ganzes Zusammensein, eine Erinnerungskatastrophe. Ich soll es nicht aushalten. Das erlebe ich. Ich bin sowohl gelähmt wie getrieben. Zu nichts mehr fähig. Ich bin unmöglich. Ich habe nicht gewusst, was ich tat, als ich dich unterm Schulterblatt berührte. Ich habe dich berührt, wie ich noch

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