Die Inszenierung (German Edition)
mich bist du aber Gustl. Auf den Augustus pfeif ich.
Bleib noch bei Kostja, bei der toten Möwe, und dass sie zu einfach sei, um seinen Gedanken zu folgen. Glaubst du ihr das?
Mir geht es doch genau wie ihr. Ich kapier nicht, warum der eine Möwe totschießt und dann sagt, das habe er aus Gemeinheit getan. Und dann noch die Drohung, dass er sich genau so töten werde.
Aber faszinieren tut er dich?
Nur weil er so unglücklich ist. Weil man ihm wünscht, dass Nina ihn lieben würde statt den Berühmten. Weil man nicht zugeben will, dass es in der Welt genau so zugeht wie hier im Stück.
Nämlich?
Sie will Schauspielerin werden, sie will weg aus der Provinz, nach Moskau, der Berühmte ist eine Fahrkarte nach Moskau. Da muss sie doch ihn lieben statt den jungen Dichter! Ich krieg natürlich mit, dass sie den jungen Dichter lieben soll. Ich soll traurig sein, dass sie den doppelt so alten Erfolgspromi liebt.
Der durch ihre Liebe zum ersten Mal gefühlsstark wird. Er kippt aus seiner Lässigkeitsroutine.
Das ist doch fast ein Wunder.
Und sie durchschaut nicht, dass sie ihn nur liebt, weil er für sie die Befreiung bringt.
Was gibt’s denn da zu durchschauen! Liebe weiß nichts von sich. Liebe ist zwecklos. Absichtslos. Arglos. Hilflos. Entweder sie kommt an oder stirbt an … an Unerwidertheit.
Sprichst du jetzt von Nina?
Ich spreche von Liebe. Aber dass, was zwischen Nina und Trigorin passiert, auf dich und mich anwendbar ist, hast du auch gemerkt.
Ich verstehe! Aber bei uns fehlt Kostja. Der in mich verliebt sein müsste. Ich habe gar keine Wahl. Es gibt nur dich. Und ich gebe zu, ich bin froh, dass es keinen Kostja gibt. Ich bin glücklich, dass es nur dich gibt! Gustl!
Ute!!!
Gustl!
Ute-Marie!
Mein Augustus!
Nina spielt dort auf der Bühne das Stück von Kostja.
Sie findet seinen Text nicht gut.
Aber sie spielt ihn.
Sie würde alles spielen, bloß um von dort wegzukommen. Nach Moskau.
Sag doch du einmal den Text, den Nina dort spielt.
Ich versteh den Text nicht.
Nina versteht ihn auch nicht. Trotzdem tritt sie auf mit diesem Monolog. Sie will doch Schauspielerin werden. Und es gibt für sie nur diesen Text, den sie weder versteht noch gut findet. Komm. Lies einfach. Lies, weil du musst. Lies, weil du dich nur so bemerkbar machen kannst. Nina sitzt ganz in Weiß auf einem großen Stein. Am Horizont der Mond, der sich im Wasser spiegelt. Kostja klopft mit einem Stock auf den Boden und deklamiert laut: O ihr ehrwürdigen alten Schatten, die ihr nachts über diesen See zieht, schläfert uns ein, und möge das Traumbild uns zeigen, was in zweihunderttausend Jahren sein wird! Jetzt du, Nina-Ute-Marie!
Menschen, Löwen, Adler und Rebhühner, Hirsche, Gänse, Spinnen und schweigsame Fische aus den Wassergründen, Seesterne und andere Wesen, die kein Auge sah – kurz, alles Leben ist erloschen, hat seinen traurigen Kreis vollendet. Schon seit Jahrtausenden bewegt sich nichts auf der Erde, und der arme Mond entzündet umsonst seine Laterne. Kein Kranich erwacht schreiend auf der Wiese, kein Maikäfer summt im Lindenhain. Es ist kalt überall, kalt. Und leer. Und schrecklich.
Pause.
Die Körper aller Lebewesen sind zerfallen zu Staub, die ewige Materie hat sie in Stein, in Wasser, in Wolken verwandelt, und alle Seelen wurden eins. Die Weltseele, das bin ich … ich … In mir ist die Seele von Alexander dem Großen, von Cäsar, Shakespeare und Napoleon, und auch die vom letzten Blutegel. In mir verbindet sich das Bewusstsein der Menschen mit den Instinkten der Tiere. Und jeden Moment – und jedes Leben durchlebe ich neu.
Ich bin einsam. Einmal in hundert Jahren öffne ich meinen Mund, um zu sprechen, und meine Stimme verhallt traurig im leeren Raum, ungehört … Auch ihr, bleiche Lichter, hört mich nicht … Am Morgen steigt ihr aus dem fauligen Sumpf und irrt bis zum Aufgang der Sonne umher, ohne Gedanken, ohne Willen, ohne Leben. Der Teufel, Vater aller Materie, wechselt laufend eure Atome, damit kein neues Leben in euch entsteht. Ihr wandelt euch ständig. Unwandelbar bleibt im Weltall einzig der Geist.
Pause.
Gefangen bin ich wie in einem tiefen Brunnen und weiß nicht, was mich erwartet. Ich weiß nur: Im Kampf mit dem Teufel, dem Ursprung aller Kraft, ist mir beschieden zu siegen. Dann werden Materie und Geist harmonisch zueinander finden, dann wird anbrechen das Reich der Freiheit. Doch dies erst, wenn nach vielen, vielen Jahrtausenden die Erde, der Mond und der helle Sirius zerfallen
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