Die Inszenierung (German Edition)
aus.
Hier in der Klinik wird darüber gelacht, dass ich ohne dein Frühstück nicht leben könnte.
Sonst noch was, ohne das du nicht leben könntest?
Ohne dich, zum Beispiel.
Und ohne Nachtschwester.
Dass wir nicht gleich im privaten Stacheldraht verbluten, erinnere ich dich daran, dass du, wie du mir hundertmal demonstriert hast, ohne deine Patienten nicht leben könntest. Du schläfst nicht, wenn ein von dir Behandelter nicht schläft. Du investierst in jeden und in jede dein ganzes Wesen. Du musst helfen, sonst kannst du nicht leben. Das erlebe ich seit Jahrzehnten. Und wenn ich staune und nicht begreife, woher du diese Mitfühlkraft hast, sagst du: Von meinen Patienten. Ich gebe ihnen nur, was ich von ihnen bekomme, sagst du.
Allerdings sage ich auch: Du bist die einzige Adresse, bei der ich mehr gebe, als ich bekomme. Bei dir zahle ich drauf.
Und bist, ergänze ich einmal ganz unpolemisch, dadurch immer reicher geworden. Glaub mir, Gerda, kein Mann und keine Frau ist so reich wie du.
Hör auf. Ich weiß, warum du so redest.
Ja? Dann sag es mir. Ich wüsste auch gern, warum ich so rede.
Du willst mir beibringen: Wir leben von unserem Beruf. Durch unseren Beruf. Und das heißt bei dir: eine Affäre nach der anderen.
Schade. Ich hätte gedacht, dieses Wort hätten wir hinter uns.
Bevor wir gleich im privaten Stacheldraht verbluten und weil du von meinen Patienten redest, lies das … Gestern eingetroffen. Von einer Patientin. Sechsundfünfzig, halb taub. Alkoholikerin. Lies …
Er nimmt es nicht.
Wenn es von einer Frau ist, lies du.
Sie liest.
Ich bin Alkoholikerin. Das werde ich bleiben. Aber wie und warum bin ich’s geworden? Solange wir nicht verheiratet waren, war der Geschlechtsverkehr immer ein Ergebnis unseres Zusammenseins. Auch wenn er mich öfter überfallen hat. Dann war ich als Überfallene glücklich. Es war keinesfalls schlimm, wenn er mich erwischte, irrsinnig küsste und mich dann beschlief. Das war Glück. Unter solchen Umständen. Dann die Heirat. Ich sollte anders sein, als ich war. Er war jetzt mit mir, wie ich war, nicht zufrieden. Er wollte Steigerungen. Mir kam das immer lächerlich vor. Mir wären wir, wie wir waren, genug gewesen. Ihm nicht. Er musste uns jedes Mal neu inszenieren. Er führte den Alkohol ein. Mir war nichts so überflüssig wie der Alkohol. Aber ich machte mit. Trank mit. Dann stellte sich heraus, dass er bei seinen Inszenierungen mit mir mehr anfangen konnte, wenn ich getrunken hatte. Ich trank gern. Wie hätte ich ohne Alkohol das Lächerliche, Nichtswürdige seiner Inszenierungen, wie diesen Leere-Zirkus ertragen und mitveranstalten können! Ich musste ja auf immer neue Regie-Einfälle seinerseits gefasst sein. Und was ihm einfiel, was dann eben doch auch Mitwirkung von mir verlangte, das war so grotesk und zutiefst unausführbar, dass ich mir angewöhnte, schon im Vorfeld zu trinken, denn schon das Miteinandertrinken war mir, so wie er das zelebrierte, in seiner Zielstrebigkeit so peinlich, dass ich, um mit ihm auf das Bestimmteste drauflostrinken zu können, immer schon etwas getrunken haben musste. Und das über Jahre hin. Da jeden zweiten Tag mit einem neuen Lusteinfall von ihm zu rechnen war, musste ich jeden zweiten Tag einen Alkoholschleier über mich werfen, der es mir ermöglichte, bei seinem Geschlechtsverkehr mitzuspielen, als wäre es mein eigenes Bedürfnis. Darauf kam es ihm vor allem an: Alles, was wir taten, musste von beiden gleichermaßen gewollt sein. Und von mir noch ein bisschen mehr als von ihm. Er konnte in seinen schrecklichen Lustveranstaltungen nicht allein sein. Das wäre zu beschämend gewesen für ihn. Ich durfte ihn in seinen heftigsten Empfindungen nicht allein lassen. Aber wenn ich auch alles wollte, was er wollte, dann war doch alles gut. Einzelheiten sind nicht nötig. Ich nehme an, dass sich die Eheschlafzimmer dieser Welt nicht sehr von einander unterscheiden. Ich will weder ihn anklagen noch mich rechtfertigen. Nur erklären, warum ich Alkoholikerin geworden bin. Unsere Ehe war, glaube ich, eine der glücklicheren. Eigentlich die glücklichste, die ich kenne. Der Preis, Alkoholikerin geworden zu sein, ist nicht zu hoch für eine wahrhaft glückliche Ehe. Ich kann mir keinen Mann vorstellen, der mir das Schwere leichter gemacht hätte als er. Wir lieben einander. Das war’s.
Ich bin beeindruckt. Und weiß nicht, warum. Shakespeare angewendet, heißt das: Die ganze Welt ist eine Inszenierung.
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