Die irische Signora
allein zurückblieb: Denn keiner konnte es ohne den anderen schaffen. Und sie waren stets übereingekommen, daß der kleine Hof dann verkauft werden sollte; der Erlös sollte es dem Vater oder der Mutter ermöglichen, den Lebensabend in einer Dubliner Wohnung, nahe den Kindern, zuzubringen.
Nora wurde klar, daß sie mit ihrer Übersiedlung nach Sizilien diesen seit langem gefaßten Plan durchkreuzt hatte. Denn damit verringerte sich die Zahl der Pflegekräfte um weit mehr als zwanzig Prozent. Da sie nicht verheiratet war, hatten die anderen wahrscheinlich angenommen, daß sie sich allein um den überlebenden Elternteil kümmern würde. Somit hatte sich die Zahl der Pflegekräfte um hundert Prozent verringert. Vielleicht hörte sie deshalb nie von ihnen. Sie würden ihr wahrscheinlich erst schreiben, wenn Mam oder Dad schwer erkrankten, vielleicht auch erst, wenn einer von ihnen bereits verstorben war.
Aber manchmal zweifelte sie selbst daran. Sie schien ihnen so fern zu sein, als ob
sie
bereits gestorben wäre. Also verließ sie sich lieber auf eine Freundin, eine liebe, gute Seele namens Brenda, die mit ihr zusammen in der Hotellerie gearbeitet hatte. Von Zeit zu Zeit schneite Brenda bei den O’Donoghues herein. Es fiel ihr nicht schwer, sich ihrem kopfschüttelnden Bedauern über Noras Torheit anzuschließen. Denn Brenda hatte Tage und Nächte damit verbracht, auf Nora einzureden, sanft warnend oder drohend; sie hatte Nora klarzumachen versucht, wie töricht es war, Mario in sein Heimatdorf Annunziata zu folgen und sich dort dem gesammelten Zorn zweier Familien auszusetzen.
Brenda war im Haus ihrer Eltern ein gern gesehener Gast, denn niemand ahnte, daß sie mit ihrer ausgewanderten Tochter in Verbindung stand und ihr erzählte, was daheim geschah. Und so erfuhr Nora durch Brenda von den neuen Nichten und Neffen, von den Anbauten am Haus, von dem Verkauf eines mehr als einen Hektar großen Ackers und von dem kleinen Wohnwagen, der nun hinten am Familienauto hing. Brenda schrieb ihr, wieviel sie fernsahen und daß sie zu Weihnachten einen Mikrowellenherd von ihren Kindern bekommen hatten. Nun, von den Kindern, die sie als die ihren betrachteten.
Außerdem versuchte Brenda, die Eltern zum Schreiben zu bewegen. Bestimmt würde Nora liebend gern von ihnen hören, beteuerte sie; sie müsse sich dort doch sehr einsam fühlen. Doch die Eltern lachten nur und erwiderten: »Von wegen. Madame Nora fühlt sich ganz bestimmt nicht einsam. Sie macht sich ein schönes Leben in Annunziata, während sich wahrscheinlich der ganze Ort das Maul über sie zerreißt und sich seinen Teil über die irischen Frauen denkt.«
Brenda war mit einem Mann verheiratet, über den sie sich vor Jahren beide lustig gemacht hatten – sein Spitzname war Pillow Case, obwohl heute keiner mehr wußte, was er eigentlich mit einem Kopfkissenbezug gemein haben sollte. Sie waren kinderlos und arbeiteten in einem Restaurant; Patrick, wie Brenda ihn jetzt nannte, war der Küchenchef und sie die Geschäftsführerin. Der Besitzer lebte die meiste Zeit im Ausland und ließ ihnen freie Hand. Brenda schrieb, es sei, als hätte man seinen eigenen Laden, nur noch besser, nämlich ohne finanzielle Sorgen. Sie wirkte zufrieden, aber vielleicht schrieb ja auch sie nicht die Wahrheit.
Nora jedenfalls berichtete Brenda nie, wie die Dinge wirklich standen; wie es war, jahrelang in einem Ort zu leben, der noch kleiner war als ihr irisches Heimatdorf, und einen Mann zu lieben, der auf der anderen Seite der kleinen
piazza
wohnte – einen Mann, der stets raffinierte Vorwände ersinnen mußte, um sich zu ihr zu stehlen, und dies mit den Jahren immer seltener tat.
Nora schilderte das wunderschöne Dorf Annunziata mit seinen weißen Häusern, wo jeder einen kleinen Balkon mit schwarzem schmiedeeisernen Geländer hatte, auf dem Geranien oder Fleißige Lieschen blühten – und nicht nur in ein, zwei Töpfen wie daheim, sondern in einer Unmenge von Gefäßen. Daß vor dem Ort ein großes Tor stand, von dem aus man das Tal überblicken konnte. Daß in der Kirche ein paar herrliche Keramiken zu sehen waren, die immer mehr Touristen anzogen.
Mario und Gabriella führten das Hotel am Ort und boten neuerdings auch Touristenmenüs an, die großen Anklang fanden. Jeder in Annunziata war hoch erfreut über den zunehmenden Besucherstrom, denn das hieß, daß auch andere Leute Geld verdienten, etwa die liebenswerte Signora Leone, die Ansichtskarten und Fotos von der Kirche
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