Die irische Signora
Mensch auch nur einen Penny setzen. Sie waren zum Scheitern verurteilt, ehe sie begonnen hatten.
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Signora
I n den vielen Jahren, die Nora O’Donoghue auf Sizilien lebte, hatte sie nicht einen Brief von zu Hause bekommen.
Stets wartete sie voll banger Hoffnung auf
il postino
, wenn er auf der kleinen Straße unter dem gleißend blauen Himmel näher kam. Aber nie brachte er ihr einen Brief aus Irland, obwohl sie an jedem Ersten des Monats schrieb, wie es ihr erging. Sie hatte Kohlepapier gekauft; auch etwas, das in dem Geschäft mit seinem kleinen Sortiment aus Papier, Stiften und Umschlägen nur schwer zu beschreiben oder auf italienisch zu verlangen war. Aber Nora mußte wissen, was sie ihnen bereits erzählt hatte, damit sie sich nicht in Widersprüche verwickelte. Da alles, was sie über ihr Leben hier schrieb, gelogen war, sollte es wenigstens in sich stimmig sein. Obwohl sie nie eine Antwort erhielt, war Nora sicher, daß ihre Briefe gelesen und mit schweren Seufzern, hochgezogenen Augenbrauen und ernstem Kopfschütteln untereinander weitergereicht wurden. Die arme, dumme, dickköpfige Nora, sie wollte nicht einsehen, was sie für eine Dummheit begangen hatte. Nie würde sie einen Schlußstrich ziehen und nach Hause zurückkehren.
»Mit ihr war einfach nicht zu reden«, würde ihre Mutter sagen.
»Dem Mädchen war nicht zu helfen, sie hatte ja nicht einmal Gewissensbisse«, würde das Urteil ihres Vaters lauten. Er war ein sehr gläubiger Mensch, und so war es in seinen Augen eine weitaus größere Sünde, Mario ohne das Sakrament der Ehe zu lieben, als ihm in das entlegene Dorf Annunziata zu folgen, obwohl Mario klargestellt hatte, daß er sie nicht heiraten würde.
Hätte sie geahnt, daß die Eltern die Verbindung abbrechen würden, so hätte sie behauptet, daß sie und Mario verheiratet wären. Zumindest hätte das ihrem alten Vater die Nachtruhe wiedergegeben, denn dann hätte er den Gedanken nicht mehr zu fürchten brauchen, vor Gott treten und die Todsünde seiner Tochter, ihre Unkeuschheit, erklären zu müssen.
Aber nein, diese Möglichkeit hätte sie nicht gehabt, denn Mario hatte ja darauf bestanden, ihnen reinen Wein einzuschenken.
»Ich würde Ihre Tochter liebend gern heiraten«, hatte er gesagt, und seine großen dunklen Augen waren zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter hin und her gewandert. »Doch leider, leider ist das unmöglich. Meine Familie möchte, daß ich Gabriella heirate, und auch ihre Familie will diese Verbindung. Wir sind Sizilianer, also müssen wir uns dem Willen unserer Familien beugen. Sicherlich ist dies in Irland nicht sehr viel anders.« Er hatte damit um Verständnis gebettelt, um Nachsicht, ja beinahe um ein aufmunterndes Schulterklopfen.
Zwei Jahre lang hatte er mit der Tochter der O’Donoghues in London zusammengelebt. Sie waren gekommen, um ihn zur Rede zu stellen. Und er hatte sich seiner Meinung nach bewundernswert ehrlich und anständig verhalten. Was konnte man mehr von ihm wollen?
Nun, zum einen, daß er aus dem Leben ihrer Tochter verschwand.
Und zum anderen, daß Nora nach Irland zurückkehrte, wo hoffentlich niemand je von dieser leidigen Affäre Wind bekam. Andernfalls würden ihre ohnehin schon geringen Heiratschancen noch weiter zusammenschmelzen.
Sie versuchte, Verständnis für die Eltern aufzubringen. Man schrieb zwar das Jahr 1969, aber sie lebten in einem entlegenen Winkel der Welt; selbst eine Fahrt nach Dublin war für sie bereits eine Tortur. Wie mußte da erst ihre Reise nach London auf sie gewirkt haben, wo sie ihre Tochter in Sünde lebend vorfanden und sich dann noch damit abfinden mußten, daß sie diesem Mann nach Sizilien folgen wollte?
Nun, die Antwort lautete, daß sie entsetzt waren und nicht auf ihre Briefe reagierten.
Nora konnte ihnen verzeihen. Ja, in gewisser Hinsicht verzieh sie ihnen wirklich. Doch ihren beiden Schwestern und ihren zwei Brüdern konnte sie niemals vergeben. Denn sie waren jung, sie mußten wissen, was es hieß, zu lieben – obwohl einem angesichts ihrer Ehepartner Zweifel kommen konnten. Aber immerhin waren sie zusammen aufgewachsen, hatten darum gekämpft, aus dem einsamen, abgelegenen Kaff, in dem sie lebten, wegzukommen. Gemeinsam hatten sie gebangt, als ihrer Mutter die Gebärmutter entfernt wurde und als ihr Vater nach seinem Sturz auf das Eis Invalide geworden war. Immer hatten sie miteinander wegen der Zukunft beratschlagt, hatten überlegt, was passieren sollte, wenn Mam oder auch Dad
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