Die irische Signora
Familie betrachte und auf sie zähle. Dann hätte sie nicht so enge Beziehungen zu den Menschen dieses wunderschönen, friedlichen Ortes aufgebaut. Wie hätte sie auch nur ahnen sollen, daß man sie bitten würde, nach Hause zu kommen? Schließlich war man nie mit ihr in Verbindung getreten. Sie würden das also sicher verstehen.
Und weitere Jahre zogen ins Land.
Inzwischen zeigten sich graue Strähnen im roten Haar der Signora. Doch anders als die dunkelhaarigen Frauen in ihrer Nachbarschaft wirkte sie dadurch nicht älter. Es sah eher aus, als seien ihre Haare von der Sonne gebleicht. Gabriella am Empfangstresen des Hotels wirkte hingegen wie eine Matrone. Ihr Gesicht war fleischiger und runder geworden, und ihre kleinen Äuglein blickten milde, während sie früher vor Eifersucht geblitzt hatten, wenn sie böse Blicke quer über die
piazza
geworfen hatte. Ihre Söhne waren groß, und sie hatte ihre liebe Not mit ihnen. Wo waren die kleinen dunkeläugigen und folgsamen Engelchen von einst geblieben?
Wahrscheinlich war auch Mario älter geworden, doch das entging der Signora. Er besuchte sie seltener und oft nur, um mit ihr im Arm still dazuliegen.
Auf der Steppdecke fand sich jetzt kaum mehr ein freies Plätzchen, um noch weitere Städtenamen einzusticken. Denn die Signora hatte inzwischen auch die Namen kleinerer Ortschaften, die ihr gefielen, dort verewigt.
»Giardini-Naxos paßt nicht zwischen die großen Städte, es ist doch nur ein winziges Nest«, rügte Mario.
»Nein, das finde ich nicht. Als ich in Taormina war, bin ich mit dem Bus dorthin gefahren … ein zauberhafter Ort, mit ganz eigener Atmospäre … und mit einer Menge Touristen. Nein, nein, er verdient einen Platz auf der Decke.« Und manchmal seufzte Mario schwer, als würde ihm die Last der Probleme zuviel. Er erzählte ihr von seinen Sorgen. Sein zweiter Sohn war ein Tunichtgut; er wollte nach New York gehen, dabei war er gerade erst zwanzig. Da konnte er leicht den falschen Leuten in die Hände geraten. Das würde zu nichts Gutem führen.
»Hier verkehrt er auch mit den falschen Leuten. Wahrscheinlich wird er in New York vorsichtiger und besonnener sein«, meinte die Signora beschwichtigend. »Gib ihm deinen Segen und laß ihn ziehen, denn fortgehen wird er sowieso.«
»Du bist sehr, sehr klug, Signora«, erwiderte Mario und schmiegte den Kopf in ihre Halsbeuge.
Dabei schloß sie jedoch nicht die Augen, sondern starrte an die dunkle Decke und dachte an die Zeit zurück, als er ihr in ebendiesem Zimmer gesagt hatte, wie dumm sie sei, weil sie ihm hierher gefolgt war. Hierher, wo es keine Zukunft für sie gab. Doch die Jahre hatten ihre Torheit in Weisheit verwandelt. Wie seltsam diese Welt doch war!
Und dann wurde die Tochter von Mario und Gabriella schwanger. Von einem Burschen, der nun ganz und gar nicht der Schwiegersohn ihrer Träume war, er stammte vom Land und schrubbte die Töpfe in der Hotelküche. Mario kam zu Nora und weinte sich bei ihr aus, über den Burschen, über das Baby, über seine Tochter, die doch selbst noch ein Kind war. Über die Schmach und die Schande.
Man schreibe bereits das Jahr 1994, entgegnete sie ihm. Selbst in Irland betrachte man so etwas nicht mehr als Schmach und Schande. So spiele eben das Leben. Man müsse das Beste daraus machen. Vielleicht könne der junge Mann ja übergangsweise im Vista del Monte arbeiten, es ein bißchen erweitern und später mal sein eigenes Lokal eröffnen.
Daß es ihr fünfzigster Geburtstag war, verschwieg die Signora nicht nur ihm, sie erzählte es auch sonst niemandem. Doch sie hatte sich selbst einen kleinen Kissenbezug bestickt, der Schriftzug
BUON COMPLEANNO
, Alles Gute zum Geburtstag, prangte darauf. Als Marios Tränen über die entehrte Tochter getrocknet waren und er gegangen war, befühlte sie den Stoff. »Ich frage mich, ob ich wirklich verrückt geworden bin, so wie ich es damals vor Jahren befürchtet habe?«
Von ihrem Fenster aus beobachtete sie, wie Maria zum Traualtar schritt, um den Küchenjungen zu heiraten, so wie sie einst Mario und Gabriella bei deren Gang in die Kirche zugesehen hatte. Die Glocken des Campanile waren immer noch dieselben, sie läuteten weit übers Land, wie Glocken eben läuten sollten.
Kaum zu glauben, daß sie schon fünfzig war. Sie fühlte sich keinen Tag älter als am Tag ihrer Ankunft. Und sie bereute nichts. Gab es außer ihr viele Menschen, die das von sich sagen konnten, hier oder anderswo?
Und natürlich kam es so,
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