Die irische Signora
Bitte, nehmen Sie es an.«
Bei Paolo und Gianna war es das gleiche. Ohne die Signora hätten sie niemals ihr Töpfergeschäft eröffnen können. »Betrachten Sie es als kleine Provision.«
Selbst die alten Leute, bei denen sie die längste Zeit ihres Erwachsenenlebens zur Miete gewohnt hatte, steckten ihr etwas zu. Sie habe das Haus so gut in Schuß gehalten, sie verdiene eine Entschädigung für ihre Mühe.
An dem Tag, als der Bus kam, um sie samt ihrer Habe in die Stadt und zum Flughafen zu bringen, trat Gabriella vor die Tür. Zwar sagte sie nichts, und auch die Signora schwieg, doch sie verbeugten sich voreinander mit ernster, respektvoller Miene. Einige der Zuschauer wußten, was diese Geste bedeutete: daß nämlich die eine Frau der anderen von Herzen dankte, in einer Weise, die sich nicht in Worte fassen ließ, und daß sie ihr viel Glück auf ihrem weiteren Lebensweg wünschte.
In der Stadt ging es lebhaft und laut zu, und am Flughafen herrschte lärmendes Gedränge. Aber es war nicht das fröhliche, geschäftige Treiben von Annunziata. Nein, hier eilten die Menschen aneinander vorbei, ohne den anderen auch nur anzusehen. Das würde in Dublin nicht anders sein, doch die Signora beschloß, nicht weiter darüber nachzudenken.
Noch hatte sie keinerlei Pläne gefaßt. Sie würde einfach tun, was sie für richtig hielt, wenn sie erst einmal dort eingetroffen war. Warum sollte sie sich die ganze Reise damit verderben, Pläne für eine unwägbare Zukunft zu schmieden? Sie hatte auch niemandem ihr Kommen angekündigt. Weder ihrer Familie noch Brenda. Zuerst würde sie sich ein Zimmer suchen und sich um ihren Lebensunterhalt kümmern, wie sie das seit jeher getan hatte. Dann würde sie sich alles weitere überlegen.
Im Flugzeug wollte sie ein Gespräch mit einem Jungen anknüpfen. Er war etwa zehn Jahre alt, so alt wie Marios und Gabriellas jüngster Sohn Enrico. Automatisch sprach sie ihn auf italienisch an, doch er blickte verwirrt zur Seite.
Also blickte die Signora aus dem Fenster. Nun würde sie nie erfahren, was aus Enrico wurde, aus seinem Bruder in New York oder aus seiner Schwester, die mit dem ehemaligen Küchenjungen oben im Vista del Monte wohnte. Sie würde auch nicht wissen, wer nach ihr in ihren Zimmern wohnte.
Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Man wußte nicht, was einen erwartete, und auch nicht, was an dem Ort geschah, wo man so lange gelebt hatte.
In London mußte sie umsteigen. Doch sie empfand keinerlei Bedürfnis, länger in der Stadt zu verweilen, wo sie einst mit Mario zusammengelebt hatte, und die Lieblingsplätze von damals aufzusuchen. Was sollte sie bei längst vergessenen Menschen oder an Orten, an die sie sich kaum noch erinnerte? Nein, sie würde gleich nach Dublin weiterfliegen. Was immer sie dort auch erwarten mochte.
Alles hatte sich ungeheuer verändert. Der Flugplatz war soviel größer als in ihrer Erinnerung. Und die Flugzeuge kamen aus aller Welt. Als sie fortgegangen war, landeten die meisten internationalen Linien noch in Shannon. Sie hätte nicht gedacht, daß es hier so anders aussehen würde. Schon allein die Straße vom Flughafen in die Stadt! Damals hatte sich der Bus seinen Weg zwischen Wohnblocks hindurch gebahnt; heute fuhr er eine mit Blumenrabatten gesäumte Autobahn entlang. Himmel, wie modern Irland geworden war!
Eine Amerikanerin im Bus fragte sie, wo sie wohnen würde.
»Ich weiß noch nicht«, erwiderte die Signora. »Aber ich werde schon etwas finden.«
»Stammen Sie von hier, oder sind Sie Ausländerin?«
»Ich bin vor langer Zeit aus Irland fortgegangen«, erklärte die Signora.
»Wie ich … ich suche nach meinen Vorfahren«, meinte die Amerikanerin erfreut. Eine Woche wollte sie damit zubringen, ihre Herkunft zu erforschen. Das sollte doch genügen, oder?
»Oh, gewiß«, nickte die Signora und merkte, daß es ihr schwerfiel, im Englischen gleich die richtigen Worte zu finden. Um ein Haar hätte sie
certo
gesagt. Doch wie affektiert mußte es klingen, wenn sie immer wieder ins Italienische fiel, man würde sie für eine Angeberin halten.
Die Signora stieg aus dem Bus und ging den Liffey entlang zur O’Connell-Brücke. Um sie herum waren lauter junge Leute, hochgewachsen und selbstbewußt standen sie lachend in Gruppen beisammen. Hatte sie nicht irgendwo gelesen, daß mehr als die Hälfte der irischen Bevölkerung unter vierundzwanzig war?
Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, es so unübersehbar bestätigt zu bekommen. Und alle
Weitere Kostenlose Bücher