Die irische Signora
nur das seiner Eltern. Daß seine große, einfältige Schwester ein Leben lang auf ihn angewiesen sein würde. Wenn er und Lizzie in zwei Jahren heirateten, wenn er mit Lizzie im Ausland lebte, wenn ihre beiden Kinder geboren wurden – Olive würde immer dabeisein.
Sein Vater und seine Mutter lebten vielleicht noch zwanzig Jahre. Dann wäre Olive erst fünfundvierzig. Eine Fünfundvierzigjährige mit dem Verstand eines Kindes. Bill fröstelte.
»Komm, Dad, Mam hat ihre drei Rosenkränze in der Kirche längst gebetet. Die beiden warten bestimmt schon im Pub auf uns.«
Das taten sie tatsächlich. Olive strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihren Bruder kommen sah.
»Das ist Bill, der Bankdirektor«, sagte sie.
Und alle im Pub lächelten darüber. So lächelten alle, die Olive nicht ihr Leben lang am Hals haben würden …
Bill fuhr hinauf zum Mountainview College, um sich für den Italienischkurs einzuschreiben. Mit Betroffenheit stellte er fest, wie glücklich er sich schätzen konnte, daß sein Vater genügend Geld beiseite gelegt hatte, um ihn auf eine kleinere und bessere Schule schicken zu können. In Bills Schule hatte es einen anständigen Sportplatz gegeben, und dank sogenannter freiwilliger Elternspenden auch einige andere Annehmlichkeiten und Vorzüge, die dem Mountainview College immer versagt bleiben würden.
Er betrachtete die abblätternde Farbe und den scheußlichen Fahrradschuppen.
Nur wenige der Jungen, die hier zur Schule gingen, würden ohne weiteres eine Anstellung bei einer Bank bekommen so wie er. Oder war er jetzt nur überheblich? Vielleicht hatten sich die Zeiten geändert. Vielleicht traf ihn noch größere Schuld als andere, weil er in Gedanken ein solches System unterstützte. Darüber, dachte er sich, könnte er mit Grania reden. Schließlich unterrichtete ihr Vater hier.
Es war kein Thema, über das er mit Lizzie reden konnte.
Lizzie war wegen des Italienischkurses schon sehr aufgeregt. »Ich erzähle jedem, daß wir bald perfekt Italienisch können«, erklärte sie und lachte glücklich. Einen Moment lang erinnerte sie ihn an Olive. Der gleiche naive Glaube, daß man etwas nur auszusprechen brauchte, damit es in Erfüllung ging, als hätten die Wünsche Macht über die Wirklichkeit. Doch wer hätte die hübsche, naive, temperamentvolle Lizzie mit der armen Olive verglichen, seiner pummeligen, zurückgebliebenen, ewig lächelnden Schwester, die für immer und ewig an ihn gekettet sein würde?
Im tiefsten Innern seines Herzens hoffte Bill, daß Lizzie sich das mit dem Italienischkurs noch einmal überlegte. Damit würde er wenigstens ein paar Pfund sparen. Allmählich ergriff ihn Panik angesichts des Betrags, der in Form von Raten von seinem Gehalt abgezogen wurde, noch bevor er am Ende des Monats auch nur einen Penny nach Hause brachte. Er freute sich über sein neues Jackett, aber so sehr dann auch wieder nicht. Wahrscheinlich würde er es noch einmal bereuen, daß er sein Geld so sinnlos verschwendet hatte.
»Sie tragen ein hübsches Jackett, ist das reine Wolle?« erkundigte sich die Frau am Schreibtisch. Sie war schon älter, bestimmt über fünfzig. Aber sie lächelte freundlich und befühlte den Stoff am Ärmel.
»Ja, genau«, entgegnete Bill. »Leichte Wolle, aber eigentlich zahlt man ja für den Schnitt. Das hat man mir jedenfalls gesagt.«
»Ja, sicher. Der Schnitt ist italienisch, nicht wahr?«. Sie sprach irisches Englisch, aber mit leichtem Akzent, als ob sie längere Zeit im Ausland gelebt hätte. Sie schien ehrlich interessiert. War das etwa die Lehrerin? Es hatte doch geheißen, es wäre eine richtige Italienerin. War das bereits der erste Haken an der Sache?
»Sind Sie die Lehrerin?« fragte er. Er hatte sein Geld noch in der Tasche. Vielleicht sollte er es sich noch einmal überlegen. Angenommen, das Ganze erwies sich als reine Geldschneiderei? Wäre das nicht typisch für ihn? Daß er aus lauter Dummheit sein Geld zum Fenster hinauswarf, nur weil er sich nicht genau erkundigt hatte?
»Ja, das bin ich. Man nennt mich die Signora. Ich habe sechsundzwanzig Jahre lang in Italien gelebt, in Sizilien, und ich denke und träume noch immer auf italienisch. Ich hoffe, es wird mir gelingen, Ihnen und den anderen Kursteilnehmern all das zu vermitteln.«
Jetzt war es noch schwerer, einen Rückzieher zu machen. Bill wünschte, er wäre nicht so ein feinfühliger, gutmütiger Mensch gewesen. So mancher seiner Kollegen in der Bank hätte genau gewußt, wie er
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