Die irische Signora
ich habe ganz und gar nicht alles, was ich will, und du auch nicht«, rief Kathy, die jetzt die lange aufgestauten Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und hemmungslos schluchzte. Und Fran, die sie sechzehn Jahre lang für ihre Schwester gehalten hatte, strich ihr mit all der Liebe, die eine Mutter geben konnte, über den Kopf und das nasse Gesicht.
Beim Frühstück am nächsten Morgen hatte Joe Clarke einen Kater.
»Kathy, sei doch so gut und hol mir aus dem Kühlschrank eine Dose kalte Cola, ja? Ich habe heute drüben in Killiney wieder höllisch viel zu tun, und die Jungs mit dem Wagen werden jeden Moment dasein.«
»Du bist näher am Kühlschrank als ich«, erwiderte Kathy.
»Willst du etwa frech werden?« fragte er.
»Nein, ich stelle nur eine Tatsache fest.«
»Na, jedenfalls lasse ich nicht zu, daß eins meiner Kinder in so einem Ton mit mir redet, hörst du?« Die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht.
»Ich bin nicht dein Kind«, entgegnete Kathy ungerührt.
Sie sahen nicht einmal erschrocken auf … ihre Großeltern. Diese alten Leute, die sie für ihre Eltern gehalten hatte. Die Frau vertiefte sich wieder in ihre Zeitschrift und rauchte, der Mann brummte: »Ich bin verdammt noch mal nicht schlechter als jeder andere Vater, den du je gehabt hast oder haben wirst. Mach schon, Kind, bring mir die Cola, damit ich nicht extra aufstehen muß, ja?«
Und da erkannte Kathy, daß sie gar nicht versuchten, ein Geheimnis daraus zu machen oder ihr etwas vorzugaukeln. Wie Fran hatten auch sie angenommen, Kathy wüßte Bescheid. Sie blickte zu Fran hinüber, die ihnen den Rücken zugekehrt hatte und zum Fenster hinausschaute.
»In Ordnung, Dad«, meinte Kathy und brachte ihm die Dose und ein Glas dazu.
»Bist ein braves Mädchen«, lobte er und lächelte sie an, wie er es immer tat. Für ihn war alles beim alten geblieben.
»Was würdest du tun, wenn du herausfinden würdest, daß du gar nicht das Kind deiner Eltern bist?« fragte Kathy ihre Freundin Harriet in der Schule.
»Ich wäre hoch erfreut, das kann ich dir sagen.«
»Warum?«
»Weil ich dann als Erwachsene nicht so ein schreckliches Kinn wie meine Mutter und meine Großmutter bekommen würde und mir nicht ständig das Geleiere meines Vaters anhören müßte, daß ich für ein gutes Abschlußzeugnis büffeln soll.« Harriets Vater war Lehrer und hegte große Hoffnungen, daß sie einmal Ärztin wurde. Aber Harriet wollte lieber Nachtclubbesitzerin werden.
Sie ließen das Thema fallen.
»Was weißt du über Marianne Hayes?« erkundigte sich Kathy später.
»Daß sie die reichste Frau von Europa ist – oder nur von Dublin? Na, und daß sie auch gut aussieht. Ich schätze, das hat sie sich alles gekauft, die schönen Zähne, die Bräune, das glänzende Haar und so.«
»Ja, bestimmt.«
»Wieso interessierst du dich für sie?«
»Ich habe gestern nacht von ihr geträumt«, bekannte Kathy wahrheitsgemäß.
»Ich habe geträumt, ich hätte mit einem ganz tollen Typen geschlafen. Ich finde, wir sollten allmählich damit anfangen, wir sind schließlich schon sechzehn.«
»Sonst redest du immer davon, daß wir uns auf die Schule konzentrieren sollten.«
»Ja, das war vor diesem Traum. Aber du siehst heute ziemlich blaß und müde und alt aus. Träum nicht wieder von Marianne Hayes, das bekommt dir nicht.«
»Ja, das stimmt«, pflichtete Kathy ihr bei und mußte plötzlich an Fran denken, an ihr blasses Gesicht und die Ringe unter den Augen. Fran, die nicht sonnengebräunt war und für die es keine Urlaube im Ausland gab. Und die seit sechzehn Jahren jede Woche Geld für ihre Tochter ansparte. Kathy erinnerte sich an Frans Freund Ken, der nach Amerika ausgewandert war. Hatte er auch eine reiche Frau gefunden? Eine, die nicht die Tochter eines Klempners war und sich in einem Supermarkt zur Filialleiterin hochgearbeitet hatte? Eine, die sich nicht für ein uneheliches Kind abrackerte? Ken hatte über sie Bescheid gewußt. Anscheinend hatte Fran sich nicht sonderlich bemüht, die Sache geheimzuhalten.
Wie Fran gestern abend gesagt hatte, gab es überall in Dublin eine Menge Familien, in denen das jüngste Kind in Wirklichkeit ein Enkelkind war. Und in vielen Fällen sei die Mutter des Kindes, die älteste Schwester, nicht zu Hause geblieben, sondern habe ein neues Leben angefangen. Das sei nicht fair.
Doch noch weniger fair war es, daß Paul Malone sein Vergnügen gehabt und sich dann aus der Verantwortung gestohlen hatte. An jenem Tag wurde
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