Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Sigrun, Mireille, Sarah und Rita – die Evolution sind, die uns verschieden macht; die fremde Grammatik, die uns vom Lateinischen entfernt. An irgendeinem Punkt in Mitteleuropa, wo sich sozusagen ihre Schicksale kreuzen (in der Mitte einer Rotunde, wenn wir den Symbolismus auf die Spitze treiben wollen), sollten wir ihnen ein Denkmal setzen für das, was sie durchmachen mussten. Noch kennen sie einander nicht. Seit einigen Wochen wissen sie voneinander, wissen wir, dass wir Halbbrüder haben und sie, wenn man so will, Stiefsöhne. Doch die Grenzen sind noch da, wo sie immer waren. Mit einer Ironie, die sie mit den drei anderen gemeinsam hat, sagt Sarah, wir Söhne seien wie Abgesandte, die sich treffen, um einen Friedensschluss auszuhandeln. Vielleicht versammeln wir die Mütter irgendwann für ein Wochenende in einem Hotel an einem neutralen Ort. In Andorra oder in der Schweiz. Aber das braucht seine Zeit.
Was noch, was noch, was noch? Sehen unsere Mütter sich ähnlich? Ich glaube nicht. Diria que no. I don’t think so. Je crois pas. Verkörpern sie alle das gleiche Schönheitsmodell, oder ergeben sie zusammen ein perfektionistisches Puzzlespiel für ein krankes Hirn, für das Hirn unseres Vaters? Weder dies noch jenes. Aber wenn wir ihnen mit unseren Plänen kommen, sie in Zukunft einmal an einem Ort zu versammeln, reagieren sie alle mit der gleichen Unlust. Mireille verzieht das Gesicht und sagt, das höre sich nach einem Treffen der Anonymen Verlassenen an. Sigrun fordert für einen solchen Gipfel finanzielle Unterstützung von der EU. Rita zieht Vergleiche zu einem durchgedrehten Fanklub (»Elvis lebt! Elvis lebt!«). Und Sarah schlägt vor: »Wir sollen uns treffen? Dann lasst uns zusammen eine Theaterversion von The Six Wives of Henry VIII auf die Bühne bringen. Was, wir sind nur vier? Wenn wir ein bisschen weitersuchen, werden sich schon noch zwei finden.«
Solche Sarkasmen dienen den vier potenziellen Witwen wohl zum Selbstschutz. Viele Jahre sind vergangen, aber ihre Liebesgeschichten ähneln sich zu sehr, als dass sie nun Lust hätten, sie voreinander auszubreiten. Von außen ist die Vorstellung verlockend: vier Frauen, wie sie gemeinsam ihre Erinnerungen an den Mann sezieren, der sie ohne Vorwarnung sitzen ließ – auf sich selbst gestellt, mit einem kleinen Kind. Sie trinken und reden. Allmählich häufen sie einen Berg von Vorwürfen an und fühlen sich dadurch mehr und mehr miteinander verbunden. Ihre Qual liegt so lange zurück, dass die Zeit ihr das Gift entzogen und sie harmlos gemacht hat wie eine ausgestopfte Bestie. Das Treffen gerät weniger zur Therapie als zum Exorzismus. Die vier trinken und lachen. Nach und nach aber beginnt jede bei sich zu denken: Die anderen haben ihn nicht verstanden. Und rechtfertigt auf diese Weise ihre Liebe in der Erinnerung und gibt ihr neuen Glanz: Meins war das Gute, das Wahrhaftige. Nun vergreift sich eine von ihnen im Ton, macht eine einen unpassenden Witz. Und plötzlich ist es vorbei mit der Allianz im Schmerz; plötzlich scheinen sie kurz davor, sich an die Gurgeln zu gehen.
Nun gibt es ein weiteres Detail, das die ganze Sache erschwert. Wir wissen nicht, ob unser Vater tot ist. Nur dass er seit über einem Jahr verschwunden ist.
Wobei verschwunden in diesem Fall kaum passend klingt, und wenn wir uns entschlossen haben, ihn ausfindig zu machen, dann, um dem Wort doch noch einen Sinn zu geben. Einen Körper. Verschwinden kann ja nur jemand, der vorher da war, und das trifft auf unsern Vater nicht zu. Seit fast dreißig Jahren hat ihn keiner von uns zu Gesicht bekommen, und selbst wenn wir all unsere Erinnerungen zusammenwerfen, können wir nur ein unscharfes Bild von ihm zeichnen. Er war nicht etwa ein scheuer oder verschlossener Mensch; bloß einer, der sich immer einen Ausweg offenhielt. Dabei machte er aber auch keinen nervösen, ruhelosen oder misstrauischen Eindruck. Sigrun erzählt, sie habe sich ebenso in seine Abwesenheit verliebt wie in seine Anwesenheit. Mireille sagt, schon wenn er eintraf, sei es ihr vorgekommen, als würde er aufbrechen. Die Kürze seiner Besuche trug dazu natürlich bei. Der Eindruck der Flüchtigkeit wurde mit der Zeit immer stärker, und für uns fühlt es sich eher so an, dass der Vater sich langsam auflöste, als dass er von einem Tag auf den anderen fort war wie weggezaubert oder von Außerirdischen entführt. Noch jetzt, da wir zum ersten Mal gemeinsam an ihn denken, scheint dieser Prozess weiter im Gang zu
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