Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
sein.
Der Wille, sich aufzulösen, ist sogar seinen Briefen anzumerken. Er schrieb sie uns an diversen Orten Europas, wohin ihn die Umzugstouren eben verschlugen, und er füllte sie mit Reiseanekdoten. Manchmal waren es bloß Postkarten, die er irgendwo am Rand einer Landstraße vollkritzelte. Auf der Vorderseite zeigten sie Reiterstandbilder, Schlösser, Gärten, Kirchen – scheußliche Provinzmonumente, die wir alle vier erschreckend genau im Gedächtnis behalten haben. Im Datum trugen sie irgendeinen Ort in Frankreich oder Deutschland, aber die Briefmarke zeigte immer Francos Gesicht in Marmor. Sie mussten tagelang im Handschuhfach des Lastwagens gelegen haben, und erst wenn er wieder in Barcelona war, dachte er daran, sie einzuwerfen. Es kam auch vor, dass er uns Briefe mit beigelegten Fotos von sich schickte, mal allein, mal mit seinen beiden Kollegen. Dazu schrieb er ein paar Zeilen voller Zärtlichkeit und Sehnsucht, die unsere Mütter, wenn sie in weicher Stimmung waren, zu Tränen rührten, die aber nie mehr als ein Viertel des Briefbogens einnahmen. Und unvermittelt brachen die gefühligen Worte wieder ab. Bald sehen wir uns, Küsse und so weiter, Unterschrift und fertig. Als hätte er sich plötzlich am Riemen gerissen; als hätte er Angst, sich zu sehr gehen zu lassen.
»Fehlte nur, dass er mit so einer Zaubertinte geschrieben hätte, die nach dem Lesen spurlos verschwindet«, bemerkt Christof.
Was sollte man noch wissen? Ach ja: wie wir vier uns untereinander verständigen. Seit dem ersten Tag, also seit Cristòfol beschloss, nach seinen Brüdern zu suchen, ist Englisch unsere Verkehrssprache. Wir behalten das bei, weil wir uns auf Englisch am ehesten verstehen und weil wir es sinnvoll finden, uns auf eine Sprache zu beschränken. Allerdings haben wir den Eindruck, dass sich in unseren Unterhaltungen mit der Zeit ein eigenes Idiom entwickelt, eine Art Familien-Esperanto. Christof hat mit dem Englischen kein Problem, und er lernte es von klein auf in der Schule. Christophe spricht es mit dem leicht affektierten Akzent, den die Franzosen nicht vermeiden können, und sein Wortschatz ist technisch geprägt, von seinen quantenphysikalischen Vorträgen und Kongressen her. Cristòfol hat es erst als Erwachsener in Privatkursen gelernt; in der Schule und an der Uni hatte er nur Französisch. Manchmal, wenn ihm ein englischer Ausdruck nicht einfällt, greift er auf diese zweite Sprache zurück, und in solchen Momenten fühlt sich Christophe immer bestärkt. Das sieht man ihm an. Chris und Christof machen sich dann über die beiden anderen lustig, indem sie ein Kauderwelsch aus Nasallauten, Zeilen der Marseillaise und Namen französischer Fußballer zu reden beginnen.
Chris wiederum kann ein wenig Spanisch, dank der Initiative von Sarah, seiner Mutter. Mitte der Siebzigerjahre, als schon klar war, dass Gabriel nicht wieder auftauchen würde, meldete sie ihren Sohn zu einem Sommersprachkurs an. Vielleicht würde er dem Vater nie mehr begegnen, aber God damn it, zumindest das Erbe der kastilischen Sprache sollte er mitbekommen. Seine Lehrerin war eine Studentin namens Rosi. Sie war nach London gekommen, um etwas zu erleben, und das Erste, was sie herausfand, war, dass sie nicht zum Unterrichten taugte. Fortan bestand ihre Lehrmethode darin, eine Kassette mit den aktuellen spanischen Sommerhits einzulegen. Daher ist Chris heute imstande, Phrasen wie »Es una lata el trabajar«, »No me gusta que a los toros te pongas la minifalda« oder »Achilipú, apú, apú« fehlerfrei und mit größter Selbstverständlichkeit zu äußern, ohne zu ahnen, was sie bedeuten.
Eine weitere gemeinsame Erinnerung liegt in, wie wir festgestellt haben, katalanischen Kinderliedern. Als wir uns zum ersten Mal in Barcelona trafen, begannen wir beim Abendessen in einem Restaurant, unser Wissen über den Vater zusammenzutragen. Am Nachbartisch saßen ein paar Kinder. Sie spielten und sangen, und plötzlich erkannten wir alle vier die Liedchen wieder, die der Vater uns beigebracht hatte, als wir klein waren. Plou i fa sol und En Joan petit com balla und El gegant del Pi …
»Ich erinnere mich an eine Gutenachtgeschichte, die er mir erzählte«, sagte Christof. »Sie ging um einen Jungen namens Pàtiufet oder so ähnlich, und der landete im Bauch eines Stiers, ›a la panxa d’un bou, on no hi neva ni plou‹ – ›und scheint auch keine Sonne rein‹. Ich habe mir damals vor Angst fast in die Hose gemacht. Heute erzähle ich die
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