Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
zitterte sein schlimmes Bein so heftig wie ehedem, nur dass nun das gute Bein auch mitzitterte. Als würde er Twist tanzen, Come on everybody, schlackerte sein ganzer Körper hin und her, er schien keine Knochen mehr in den Gliedern zu haben.
Es war ein langer und langweiliger Umzug, von einem Büro zum anderen; ein erfolgreicher Geschäftsführer verlegte seinen Arbeitsplatz von der Plaça Urquinaona an die Plaça Calvo Sotelo. Doch am Ende, als sie wieder im Transporter saßen, rief Tembleque ihnen ins Gedächtnis, dass er einst ihr Lehrmeister gewesen war. Mit maliziösem Blick und Gaunergrinsen zog er unter seiner Jacke eine Schachtel voller fabrikneuer Bic-Kugelschreiber hervor und gab ihnen beiden je drei davon ab.
»Für eure Liebesbriefe, Buben. Wird nämlich höchste Zeit, dass ihr euch mal ein Frauchen sucht.«
Dank Tembleques raumgreifender Art hatte Bundó den ganzen Tag kaum sprechen müssen. Aber Gabriel war sein schlechter Zustand natürlich aufgefallen, und als es ans Abschiednehmen ging, fragte er ihn demonstrativ, welchen Bus man von Poblenou aus zur Via Favència nehmen müsse.
»Nee, heute komme ich wieder mit in die Pension. Ich habe ja noch für die ganze Woche bezahlt, das will ich nicht verfallen lassen. Außerdem ist es in der Wohnung arschkalt. Samstag kaufe ich mir einen Ofen.«
Die Worte waren Balsam für sie beide. Nach dem Essen gingen sie noch für eine halbe Stunde ins Principal und tranken dort ihren Kaffee. Sie waren erschöpft, wie jeden Abend, aber die Rückkehr zur gemeinsamen Routine erleichterte sie sehr. Sie standen an der Bar und plauderten – ob Tembleque alt geworden sei, ob im Dicen sonst was über den FC Barça stehe, ob man bald schon die Lose für die Weihnachtslotterie kaufen solle –, und plötzlich, aus heiterem Himmel, bot Bundó Gabriel an, mit ihm in die neue Wohnung zu ziehen.
»Für ein paar Monate, meine ich. Also bis Carolina kommt. Es wäre ja für dich gut, oder? Du würdest dir die Miete für die Pension sparen und mal andere Luft atmen.«
Unser Vater ließ ihn ausreden und sagte dann, ohne zu zögern, Nein. Es stand für ihn außer Frage. Ihm ging es sehr gut im Hause Rifà.
»Ich musste es versuchen«, gab Bundó zu und wechselte das Thema, als wäre nichts gewesen. Doch offensichtlich rumorte es in ihm weiter, denn auf dem Rückweg zur Pension nahm er Gabriel, diesmal ohne zu verbergen, wie dringlich es ihm war, das Versprechen ab, dass sie zumindest das Weihnachtsfest gemeinsam verbringen und bei ihm zu Hause zu Abend essen würden. Sie beide und Carolina. Er würde einen Christbaum kaufen und schmücken, sie würden ohne Scham die Lieder singen, die ihnen die Nonnen beigebracht hatten, und nach dem Singen würden sie sich Geschenke machen.
»Dein Glück, dass du nicht vergessen hast, mich einzuladen«, war Gabriels Antwort.
Wenn wir uns unsern Vater Ende Oktober 1971 vorstellen wollen, passt am besten das Bild eines Zirkusartisten. Einer, der Teller auf den Spitzen biegsamer Stäbe kreisen lässt. Seine Tugend ist das Gleichgewicht. Er schafft es, einen Stab auf jeder Handfläche, einen auf der Stirn und sogar noch einen auf dem Kinn zu balancieren. Mit einer Gelassenheit, die das Publikum wahnsinnig macht, schaut er zu, wie die Teller sich immer langsamer drehen, und noch langsamer und noch langsamer, bis Scherben unvermeidlich scheinen. Aber dann, im letzten Moment, gibt er ihnen wieder Schwung, und das Spiel beginnt von Neuem.
Gabriel verstand es, seine Beziehungen zu drei Frauen und drei Söhnen ohne nennenswerte Tumulte in der Balance zu halten. Natürlich waren die Spielregeln für ihn von Vorteil: Er hatte sein Basislager in Barcelona, wo er das Leben eines Junggesellen führte, während ihm die Umzugsfahrten hin und wieder zu Besuchen bei seinen Familien verhalfen. Etwa alle drei Monate ließ er sich bei uns blicken, mit Glück auch ein wenig öfter. Wenn es geschah, dass er in einem Monat zweimal kam, hatten wir schon den Eindruck, er würde bei uns leben, und die Welt war wunderschön. Die Wartezeit zwischen den Besuchen ließ sich schwer ertragen, aber unsere Mütter hatten gelernt, kein Drama daraus zu machen. Sie waren jung, tapfer, modern, eigenständig. Und sie hatten ja uns, ihre Christofs. Es wäre dumm, zu denken, dass diese Aufteilung für unseren Vater ein reines Idyll gewesen wäre und er überhaupt nicht darunter gelitten hätte. Eher handelte es sich für ihn um etwas Unvermeidliches, um einen Zustand, der ihn eben
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