Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
ereilt hatte. Was ihn natürlich für nichts entschuldigt. Wir selbst, kleine Jungs von sechs, vier, zwei Jahren, weinten ja, wenn wir ihn abfahren sahen, oder krümmten uns stundenlang vor Sehnsucht, wenn er fort war – und das wusste er. Das waren die Argumente, mit denen unsere Mütter ihn immer wieder zu überreden versuchten, endlich nicht mehr in den verdammten Pegaso einzusteigen, sondern zu Hause zu bleiben.
Wir finden die Vermutung nicht abwegig, dass ihn diese Beharrlichkeit, gerade weil es ihm selbst als Kind an Zuneigung gemangelt hatte, darin bestärkte, nichts zu ändern. Er fühlte sich geliebt. Es ist immer tröstlich zu wissen, dass irgendwo jemand auf dich wartet.
Wie hätten sie reagiert, wenn aufgeflogen wäre, dass Gabriel, der Artist, das gleiche Kunststück noch mit anderen Frauen und Söhnen vollbrachte? Sigrun, Sarah, Mireille und Rita (die später dazukam, aber genauso mitzählt) ziehen es vor, sich mit dieser Frage nicht zu befassen. Sie haben die Wahrheit so spät erfahren, nach so langer Zeit der vergeblichen Hoffnung, der bösen Ahnungen, der Resignation und schließlich der Gleichgültigkeit, dass sie ihnen nun unglaubwürdig vorkommt wie eine dieser Kurzmeldungen, mit denen die Zeitungsleser zum Staunen gebracht werden sollen. »Anwalt gewinnt 200 Prozesse, obwohl er nie Jura studierte.« – »Fernfahrer hält jahrzehntelang geheim, dass er vier Familien zugleich hat.«
Keine Frage, die Wirklichkeit war viel zu kompliziert, um sich auf eine Schlagzeile zusammendrängen zu lassen. Es kostete unseren Vater große Mühe, die Lüge aufrechtzuerhalten. Er gab ein Vermögen dafür aus, uns einmal in der Woche anzurufen, zu einem festen Termin, immer am frühen Abend, wenn er von der Arbeit kam. Und sein seltsamer Sprachcocktail machte aus den Telefonaten jedes Mal so etwas wie eine schlecht gedolmetschte internationale Konferenz. Ganz verständlich waren allein die Sätze, in denen er Orte, Tage und Uhrzeiten mischte: »I arrive Londres Saturday twelve in the morning, and go the Monday very early.«; »Nous serons a Paris le divendredi quinze.« Na ja, und auch die intimeren Worte zum Abschied. Die Mütter wollen sie uns nicht verraten, aber sie sagen, dass sie ehrlich und zärtlich klangen.
Jeder seiner Familien widmete Gabriel also einen Tag in der Woche.
»Bei uns war es der Dienstag«, erinnert sich Christof. »Ich weiß noch, wir aßen früher zu Abend deswegen. Als ich drei Jahre alt war, brachte mir meine Mutter bei, ans Telefon zu gehen und meinen Namen zu sagen. Dann hörte ich den Vater lachen und verstummte vor Scham.«
»Uns rief er donnerstags an«, sagt Chris.
»Mittwochs, immer mittwochs.«
Wir wissen nicht, ob der Vater sich Notizen machte oder einfach ein sehr gutes Gedächtnis hatte, aber keiner von uns erinnert sich, dass ihm je ein Patzer unterlaufen wäre. Nie hat er Sigrun Mireille genannt und Rita nie Sarah. Paris verwandelte sich nicht in London und Christof nicht in Christophe – das heißt, er betonte sogar stets auf der richtigen Silbe. Nach dem, was die Mütter sagen, war auch sein Unbewusstes ähnlich aufgeräumt: Selbst wenn er nachts aus dem Schlaf schrak, wusste er immer gleich, wo er war, und nicht einmal im Traum rutschte ihm in einem der vier Betten je der Name einer Frau heraus, die nicht dorthin gehörte.
Die ganze Verschwiegenheit drohte zu zerplatzen, und zwar ausgerechnet wegen des Weihnachtsessens im Hause Bundó. Es war das erste Anzeichen dafür, dass einer der in der Schwebe gehaltenen Teller zu Boden gehen könnte – und dann die anderen folgen würden. In all den Jahren seines Konkubinats mit Sigrun, Sarah und Mireille war es ihm gelungen, sein Leben in Barcelona diskret im Schatten zu belassen. Zwar hatte er ihnen, mit Bundós und Petrolis Hilfe, nichts davon ganz verheimlicht, aber ihnen auch nicht alles erzählt. Er hatte ihnen mit Schilderungen aus seiner Kindheit im Waisenhaus die Herzen erweicht. Er sparte nicht an Einzelheiten, wenn es um seine Arbeit ging: wie er zu La Ibérica gekommen war, wie schlecht der Chef sie behandele, wie sie sich an ihm rächten, indem sie bei den Umzügen klauten. Dem Anschein nach verbarg er auch sein Alltagsleben nicht vor den Müttern. Sie wussten, dass er mit Bundó zusammen in einer Pension im Stadtzentrum wohnte, er hatte ihnen auch die Telefonnummer gegeben, allerdings unter der Auflage, nur im Notfall dort anzurufen. Er hatte ihnen ein genaues Porträt von Frau Rifà geliefert, ihr dabei
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