Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
aber Gabriel hörte ihn wohl nicht, er wandte sich nicht um. Um sich abzulenken, suchte Bundó den DKW, der klein wie ein Spielzeug auf dem Parkplatz stand, und versuchte, ihn mit einer Ladung Spucke zu treffen. Die Dunkelheit verschluckte das Geschoss auf der Höhe der ersten Etage. Bundó blickte zum Horizont und ließ sich für eine Weile von den Lichtern Barcelonas hypnotisieren. Carolina würde staunen, wenn sie das sähe. Er begann zu frieren. Also ging er wieder hinein, und dort, im Esszimmer, wurde ihm auf einen Schlag bewusst, wie sehr sich mit diesem Tag sein Leben verändert hatte. Über Jahre hatte er diesen Moment erwartet und zugleich gefürchtet, und nun fragte er sich, ob er ihm gefiel oder nicht. Ein neuartiges Unbehagen beschlich ihn, das von seinem Magen ausging, sich dann überallhin verzweigte und ihn lähmte. Es kam ihm vor, als wäre sein Körper plötzlich viel schwerer als sonst und die Luft um ihn herum so dicht wie nie – als müsste das Haus nun erst einmal einen Abdruck von ihm machen, um ihn zu erkennen. Das tat zwar nicht weh, dennoch hätte er sein halbes Leben darum gegeben, nun Carolina bei sich haben zu können. Er hätte sie fest umarmt, und gemeinsam hätten sie diese Stille schon verscheucht.
Hier eine dornige Frage. Seit Bundó zwei Jahre zuvor den Kaufvertrag geschlossen hatte, hielt Carolina ihn hin. Jedes Mal, wenn er sie im Papillon besuchte und unweigerlich auf die Wohnung zu sprechen kam, sagte sie ihm, sie könne sich nichts Schöneres vorstellen, als immer mit ihm zusammen zu sein, jeden Morgen an seiner Seite zu erwachen, nie wieder einen stinkenden Franzosen sehen zu müssen – und an dem Punkt bat Bundó sie, um Gottes willen nicht ins Detail zu gehen. Zugleich aber weigerte sie sich, unter diese Etappe ihres Lebens endlich den Schlussstrich zu ziehen. Versuchte er sie zu überreden, einfach mit in den Pegaso zu steigen, erklärte sie, es sei nicht damit getan, die Tür hinter sich zu schließen und dem rosa Neonschild dieser Bruchbude ein für alle Mal den Rücken zu kehren. Was genau sie wollte, konnte sie nicht sagen, die Dinge lagen jedenfalls nie so einfach, wie Bundó sie sich vorstellte.
Vielleicht muss man bedenken, dass Carolina im Herbst 1971 schon fünfundzwanzig Jahre alt war und sechs davon im Landstraßengewerbe gearbeitet hatte. Sie hatte gelernt, Tag für Tag mit Muriel zu leben, ihrer Miss Hyde, und sie hatte sie zu lieben gelernt, als wären sie beide wirklich dieselbe Person. Auch hatte das Alter Ego ihr mit den Jahren zu einer sehr skeptischen Weltsicht verholfen.
»Hier gibt’s keine Guten und Bösen«, pflegte Muriel im Morgengrauen an der Bar zu sagen, bei billigem Sekt und mit rauer Stimme. »Wir alle wälzen uns wie die Schweine in unserem eigenen Dreck. So haben wir es gerne. Nicht weil es Dreck ist, sondern weil es unser eigener ist. Du hast keine Wahl. Entweder du nimmst es hin oder nicht. Und wenn nicht, dann such dir halt den höchsten Balken und häng dich dran auf.«
In ihrer letzten Zeit im Bordell hatte sie die Kategorie gewechselt. Es waren zarte junge Mädchen angekommen, seither arbeitete sie weniger – was Bundó zumindest erleichternd fand. Gegen den Rat der Madame hatten sie und zwei Kolleginnen eine Wohnung in Saint-Étienne gemietet und kamen nur noch zu ihren Dienststunden ins Papillon. Wenn gerade nichts los war, nahm Muriel die jungen Mädchen beiseite (zwei von ihnen waren aus Spanien, Analphabetinnen, arglos und bezaubernd) und unterrichtete sie in der Kunst des Simulierens und des Spiels mit den Kunden.
Glücklicher machten diese Entwicklungen sie jedoch nicht. Im Gegenteil. Als die Carolina von gut fünfzig Jahren, elegant und reserviert, sich in Paris mit Christophe traf, sprach sie über jene letzten Monate ganz unverblümt:
»Heute ist das ja leicht gesagt, aber ich hätte wirklich nichts lieber gewollt, als mit Bundó nach Barcelona zu gehen. Ich war bloß unfähig, den entscheidenden Schritt zu tun. Das Problem haben wir alle. Du kannst es dir nicht vorstellen: Die Routine im Bordell blockiert dich, du fühlst dich wie verstümmelt, als wäre deine Gegenwart krankhaft zusammengeschrumpft. Du bist jung, du gibst dir alle Mühe, nicht drüber nachzudenken – und um dich vor dir selbst zu rechtfertigen, schickst du einmal im Monat deinen Eltern Geld. In meinem Fall gab es durchaus hin und wieder lichte Momente, oft nachdem Bundó mich besucht hatte. Dann merkte ich, dass mein Ballast Muriel war. Ich konnte
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