Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
lediglich ein paar zusätzliche Lebensjahre und Kilos angedichtet, und er hatte sie mit der Geschichte von den ausgestopften Tieren zum Lachen gebracht. Er erzählte ihnen von den anderen Pensionsbewohnern, die dabei alle ziemlich verstaubt wirkten. Mit solcher Auskunftsfreude wusste er zu verdecken, dass er zu seiner eigenen gegenwärtigen Existenz nur Vagheiten und Verallgemeinerungen vorbrachte. Barcelona stellte er als schmutzige, langweilige und ungastliche Stadt dar. Die Straßen waren schlecht beleuchtet, die Armen lebten in Wellblechhütten, das Meer war verdreckt und weit entfernt, die wenigen Touristen, die sich herverirrten, wurden von Gaunern geschröpft. »Spain is different«, sagte er mit einem Sarkasmus, der den Müttern unerfindlich blieb.
Außerhalb der Landesgrenzen gebärdete er sich als leidenschaftlicher Franco-Gegner und beschimpfte den Diktator mit einer wenig natürlichen, aber umso wirkungsvolleren Vehemenz.
So formte sich in den Köpfen unserer Mütter nach und nach ein Bild von Barcelona als einer Hölle auf Erden, in die sie niemals einen Fuß setzen würden. Gabriels Pensionsleben konnte also nicht mehr als eine Übergangslösung sein, ein Schritt auf dem Weg in eine bessere Zukunft.
Das Problem war, dass die Zukunft, genauer gesagt die französische Zukunft, das Warten satthatte. An einem Dezembermorgen beschloss Mireille, sich ein Busticket nach Barcelona zu kaufen. Das Reiseunternehmen hatte eine Verbindung speziell für die spanischen Gastarbeiter eingerichtet, die Weihnachten bei ihrer Familie verbringen wollten; die Busse fuhren am Dienstag, den 21., nachmittags ab. Mireille ließ Christophe bei Justine, die nun mit einem der früheren WG-Genossen zusammenlebte. Beide hatten ihn ja schon als Säugling mitversorgt und wussten mit ihm umzugehen.
»Ich war zwei Jahre und zehn Monate alt. Sie ließen mich zu den psychedelischen Pink-Floyd-Stücken tanzen, und weil ich so nervös war, gaben sie mir abends Schlafmohntee mit Milch zum Einschlafen.« Das möchte der Protagonist hier gerne festhalten.
Nach endlosen Stunden auf der Straße, die sie besser verstehen ließen, welche Qual für Gabriel die Umzugsfahrten sein mussten, stieg Mireille am Mittwoch um ein Uhr mittags an der Plaça Universitat aus. Eine Rückfahrkarte hatte sie nur noch für den Samstagabend bekommen, also an Weihnachten selbst. Dreieinhalb Tage schienen ihr kümmerlich, aber immer noch besser, als Gabriel gar nicht zu sehen, und sie hoffte, dass ihr Überraschungsbesuch für ihn das schönste Weihnachtsgeschenk wäre. Außerdem wünschte sie – aber das behielt sie für sich –, sie könnte ihn mit dieser impulsiven Tat, erwachsen aus dem Glauben an ihre Liebe, endlich überzeugen, dass sie und er zusammengehörten und sein Platz an ihrer Seite in Paris war.
Als sie durch die Straßen Barcelonas lief, ließ ein Aufblitzen der Sonne sie wohlig erschauern, und große Zuversicht durchströmte sie. So eine Sonne hatte man in Paris seit Monaten nicht zu Gesicht bekommen. In der Nacht hatte es geregnet, und es war zwar kühl, aber das Pflaster der Gehwege glitzerte, und die Gebäude trugen einen goldenen Schimmer. Sie stieg in eins der Taxis, die an der Busstation warteten, und nannte dem Fahrer die Adresse Almogàvers 135. Der unaussprechliche Straßenname saß ihr fest im Gedächtnis, so oft hatte sie ihn hinten auf dem Pegaso gelesen. Weil sie Ausländerin war, ließ der Chauffeur sie in den Genuss einer kleinen Stadtrundfahrt kommen, erst über die Gran Via, dann die Via Laietana hinab bis zur Hauptpost und von dort zur Zitadelle. Mireille sah sich die Straßen und die Leute genau an. Die rußigen Fassaden der Häuser, die beschlagenen Fensterscheiben der Geschäfte und Bars, die Straßenlaternen, von denen beschweifte Sterne baumelten, die nachts wohl golden leuchteten. An der Kreuzung mit der Avinguda de la Catedral versah ein Verkehrspolizist in Galauniform von einer Kanzel herab seinen Dienst. Mireille war verzaubert von all den Augenweiden, die sich ihr darboten, und der Taxifahrer lächelte, stolz auf seine Stadt. Zur Begleitung lief eine wundersame Radiosendung, in der Kinder in einem gebetsartigen Singsang ununterbrochen Zahlen aufsagten. Als sie an der Zitadelle vorbeifuhren, erfreute sich Mireille am anmutigen Wechselspiel der Parkmauer mit den entlaubten Bäumen dahinter. Einige Straßen weiter schob sich das Poblenou als kompakte Abfolge von Fabriken und Lagerhallen ins Bild, und sie überholten
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