Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
einen Maultierkarren, beladen mit Kartoffelsäcken, Kohl- und Salatköpfen. Gegen halb zwei erreichten sie die Gebäude von La Ibérica. Obwohl sie dem Chauffeur noch ein großzügiges Trinkgeld gab, fand Mireille den Fahrpreis unfassbar billig.
Um diese Zeit hielt Herr Casellas seinen Arbeitern gerade in der Garage eine Predigt. Wie jedes Jahr versammelte er am 22. Dezember die ganze Belegschaft und führte sie durch die Zeremonie der weihnachtlichen Extrazahlung. Den Vormittag über blieb er in seinem Büro und hörte sich im Radio die Ziehung der Weihnachtslotterie an, während die Arbeiter die Halle putzten, die Last- und Lieferwagen wuschen und die Motorhauben mit Stechpalmenzweigen und glänzenden Bändern dekorierten. Anschließend stellten sie die Fahrzeuge im Halbrund auf und in der Mitte eine Krippe mit lebensgroßen Figuren, Sankt Josef, die Muttergottes und das Jesuskind. War das Werk vollendet, rief Herr Casellas alle mit einem Hieb auf die Hupe zusammen und bezog an der Krippe Position, neben sich seine zertifizierte Sekretärin Rebeca sowie einen Pfarrer, den ihm seine Schwester aus der Casa de la Caritat zur Verfügung stellte. In seinem Spanisch aus dem Viertel Bonanova belehrte Herr Casellas seine Angestellten sodann über die Tugenden der täglichen Arbeit, den Geist der Selbstüberwindung, und er rief ihnen ins Gedächtnis, dass Weihnachten eine Zeit der Einkehr sei, der Familie und der Gedanken an Gott, unsern Herrn. Der Priester nickte mit ernstem Gesicht, übernahm das Wort, um durch ein Ave-Maria zu leiten, das alle gemeinsam laut beteten, und erinnerte noch einmal daran, dass die Weihnachtsfeiertage ernstlich zu befolgen seien. Er erwarte sie alle in der Messe. Anschließend rief Herr Casellas, assistiert von Rebeca, die Arbeiter einen nach dem anderen zu sich, wünschte ihnen ein gesegnetes Fest und überreichte ihnen den Umschlag mit der Sonderzahlung und ein Geschenkkörbchen. Jedem Einzelnen widmete er auch ein paar väterliche Worte.
»Was macht das Bein, Tembleque? Immer noch so eine Plage? Könnten das Krampfadern sein? Wir sind ja schon in einem Alter …«
»Dies ist für Sie, Petroli. Haben Sie gut darauf acht, in diesem Leben kann man nie wissen.«
»Bundó, Bundó … Ob Sie sich wohl der Schwestern in den Hogares Mundet entsinnen und spenden? Was soll ein Muster an Bescheidenheit wie Sie mit so viel Geld anfangen?«
»Delacruz. Ah, Delacruz, hier. Falls ein Scheinchen fehlt, ist es bei einem Umzug verloren gegangen. An Ihrer Stelle würde ich nachzählen.«
Mireille verfolgte das Schauspiel unbemerkt von der Eingangstür aus und versuchte den Abscheu zu zügeln, den dieser speckbackige Mann – zweifellos der Faschist Casellas – ihr einflößte. Am Ende schmetterten der Priester und der Chef, wie jedes Jahr, gemeinsam das Weihnachtslied El Tamborilero, und die Arbeiter stimmten schüchtern ein. Als das letzte ro-po-pom-pom ausklang, trat Mireille ein paar Schritte ins Halbdunkel der Halle herein. Gabriel erblickte sie als Erster, im Gegenlicht, neben ihr auf dem Boden ihre Tasche, er erkannte sie sofort. Er löste sich aus der Gruppe und ging zu ihr, ohne seine Verblüffung zu überspielen, aber auch ohne dass es ihm die Sprache verschlagen hätte. Seit Jahren hatte er sich auf einen solchen Zwischenfall eingestellt. Er umarmte und küsste sie. Aus dem Hintergrund erklangen die Rufe und Pfiffe der Kollegen und mittendrin Bundós Stimme: »Oh, là, là!«
»Caramba, Delacruz, das haben Sie aber gut für sich behalten«, sagte Casellas, während er näher kam. Er hielt Mireille eine schlaffe Hand hin: »Mit wem haben wir denn die Ehre?«
Gabriel übernahm das Vorstellen. Der Chef spreizte sich wie ein Pfau, doch als er den französischen Namen hörte und woher sie kam, da runzelte er die Stirn. Für einen Augenblick nur, unwillkürlich, als überfiele ihn eine Ahnung, wie all die Turbulenzen bei den Auslandsfahrten von La Ibérica zu erklären seien. Die verlorenen Kisten, die Verspätungen, die Ausreden, die Klagen der Kunden. Die Art, wie Mireille ihm begegnete, kühl und kein bisschen unterwürfig, erleichterte die Sache nicht. Totenstille trat ein. Doch dann knallte ein Sektkorken. Neuerlich vom Geist der Weihnacht beseelt, eilte Herr Casellas, sich ein Glas zu holen, um den Toast auszubringen, und lud Mireille ein, mit ihnen zu feiern, mit der großen Familie von La Ibérica. Und nach den Festtagen, nahm er sich vor, würde er Bundó – denn der war der Weichste von
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